© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 29/22 / 15. Juli 2022

„Das müssen wir jetzt ausbaden“
Reportage: Volle Schalter, fehlende Gepäckabfertigung, frustrierte Passagiere – Ferienbeginn an Deutschlands Flughäfen
Hinrich Rohbohm

Die Schlange reicht weit durch die Abflughalle. Dabei hat der Check-in-Schalter noch nicht einmal geöffnet. Es ist 12 Uhr. Seit zwei Stunden steht Lieke im vorderen Teil dieses Menschenauflaufes. „Ich bin schon um 10 Uhr am Düsseldorfer Flughafen angekommen“, erzählt sie. Fünfeinhalb Stunden bevor ihr Emirates-Flieger nach Dubai startet. „Selbst da standen schon 80 Leute vor mir in der Reihe.“

Die 28jährige Krankenschwester kommt aus Holland, wäre normalerweise in Amsterdam abgeflogen. „Aber da herrscht ein noch größeres Chaos, da geht gar nichts mehr.“ Sie erzählt von Bekannten, denen der Flug storniert wurde. Von Leuten, die noch Tage nach der Ankunft auf ihr Gepäck warteten. „Das wollte ich auf jeden Fall vermeiden.“ Also hat sie sich mit ihrem 30 Kilogramm schweren Koffer nach Deutschland aufgemacht. In der Hoffnung, von hier besser wegzukommen.

Doch auch in Deutschland herrscht Flughafen-Chaos. Der Grund: akuter Personalmangel. Wütende Passagiere, weinende Kinder. „Airport made in Germany“, schreit ein frustrierter ausländischer Fluggast hämisch durch die Abflughalle, die Warteschlange genervt verlassend. Vielen Passagieren geht es derzeit ähnlich. Sommerferien, Urlaubsreisewelle, weitestgehend aufgehobene Corona-Beschränkungen. Alles Faktoren, die zu einem erhöhten Reiseaufkommen beitragen. Aber auch Entwicklungen, die eigentlich abzusehen waren.

Weil jedoch während der Pandemie der Flugbetrieb stark eingeschränkt war, sahen sich die Fluggesellschaften zum Stellenabbau gezwungen. Trotz Milliarden-Hilfen des Staates. Beschäftigte mußten gehen, suchten sich neue Jobs. Einer Studie des Instituts der deutschen Wirtschaft zufolge fehlen derzeit an deutschen Flughäfen mehr als 7.000 Fachkräfte. Reserven seien auf dem Arbeitsmarkt nicht mehr vorhanden. Jetzt treffen wenige Flüge und wenig Personal auf viele Urlauber. Das konnte nicht gutgehen. Besonders Flugbegleiter und Personal in der Flugabfertigung fehlen. Hinzu kommen Ausfälle von Mitarbeitern durch Corona-Infektionen. Die Folgen bekommen die Fluggäste deutlich zu spüren: gestrichene Flüge, lange Wartezeiten, verzögerte Gepäckbeförderung, hohe Preise. 

„Wir werden hier zum Teil angeschrien und richtig übel beschimpft“, schildert eine Mitarbeiterin am Schalter von TUIFly der JUNGEN FREIHEIT ihre Erlebnisse. Sie spricht von Kolleginnen, die sich krank melden, „weil sie der hohen Belastung nicht mehr standhalten.“ Sie könne die Passagiere verstehen, „die sind ja genauso frustriert wie wir.“ Lange schon seien die Engpässe absehbar gewesen. Doch die Politik sei untätig geblieben. „Die haben viel zu spät reagiert, das müssen wir jetzt ausbaden.“

Erst als das Chaos an den Flughäfen für jeden sichtbar wurde, habe die Politik reagiert. Doch statt auf Umschulungsmaßnahmen für Erwerbslose setzt die Bundesregierung auf die Anwerbung von Fachkräften aus der Türkei und aus Rußland. Durch eine sogenannte Globalzustimmung sollen sie beschleunigte Aufenthaltstitel und Arbeitsvisa erhalten. Eine Arbeitserlaubnis erfolgt künftig ohne Zustimmung der Ausländerbehörden und der Bundesagentur für Arbeit.

Nicht einmal der Nachweis der türkischen Staatsangehörigkeit ist zwingend. Durch die Globalzustimmung der Bundesregierung ist es ausreichend, lediglich über einen Wohnsitz in der Türkei zu verfügen. Russen, die in international tätigen Unternehmen arbeiten, sollen den Fachkräftemangel im Bereich der Informations- und Kommunikationstechnologie  beheben. Ausgerechnet in einem solch sensiblen Gewerbe wie der Informationstechnologie? Ausgerechnet in der aktuell angespannten sicherheitspolitischen Krise? Wo die Spionageabwehr des Verfassungsschutzes gerade vor dem Risiko warnt, russische IT-Fachkräfte könnten – sogar unfreiwillig – Ziel von Anwerbungsversuchen durch Moskaus Dienste werden. Und Türken, die nicht einmal ihre Staatsangehörigkeit nachzuweisen brauchen? Man könnte das für einen Scherz halten. Doch es ist die Realität, „Made in Germany“.

Allerdings müssen sich die neuen Fachkräfte einer Zuverlässsigkeitsüberprüfung unterziehen. Die ist nach dem Luftsicherheitsgesetz zwingend vorgeschrieben. Wer aber führt sie durch? Anfrage bei der Fraport AG, der Betreibergesellschaft von Deutschlands größtem Flughafen in Frankfurt am Main. „Die behördliche Zuständigkeit variiert nach Bundesland. Zuständig für die Zulassungsüberprüfungen am Flughafen Frankfurt ist die Luftsicherheitsbehörde Hessen im Polizeipräsidium Frankfurt“, erklärt ein Sprecher des Unternehmens gegenüber der JF.

Die nächste böse Überraschung erleben die Gestrandeten im Hotel

Dort nachgefragt stellt sich heraus: „Die Überprüfung einer Fachkraft dauert in der Regel zwischen sechs und acht Wochen.“ Dann aber ist die große Urlaubswelle längst vorbei, die aktuellen Probleme bleiben ungelöst. Entsprechend verhalten machen die Unternehmen von der Fachkräfte-Willkommen-Idee Gebrauch. „Das nützt uns hier alles gerade herzlich wenig“, meint ein mit gelber Warnweste bekleideter Mitarbeiter in der Gepäckabfertigung des Düsseldorfer Flughafens, angesprochen auf die Maßnahme der Bundesregierung. Der Mann hat andere Probleme. Fluggäste sprechen ihn immer wieder auf vermißtes Gepäck an. „Jedesmal kann ich nur sagen, daß ich dafür nicht zuständig bin und daß sie sich an AHS wenden müssen“, sagt er gereizt. Doch ob jeder Passagier weiß, was AHS ist? Hinter den drei Buchstaben verbirgt sich die Firma Aviation Handling Services, ein für Passagierabfertigungen zuständiges Unternehmen. Auch die Gepäckbeförderung fällt in dessen Zuständigkeit.

Vor der Tür der Firma in der Düsseldorfer Ankunftshalle sitzen Michi, Stephan und Mike. Das Trio war vor drei Tagen aus Wien angekommen. Nicht angekommen war dagegen ihr Gepäck. „Die hatten uns gesagt, wir sollen nach drei Tagen wiederkommen“, erzählt Mike. Jetzt warten sie vor der verschlossenen Tür. „Seit mehr als zwei Stunden“, ergänzt Michi angesäuert. 

Vor der AHS-Tür ist eine Klingel. „Die haben wir jetzt schon mehrere Male gedrückt“, berichtet Stephan. Reaktion: keine. Auch andere Passagiere warten und klingeln. Mit dem gleichen Ergebnis. Dann endlich öffnet ein Mitarbeiter. Die Wartenden laufen auf ihn zu, reden auf ihn ein. „Ich bin da der falsche Ansprechpartner, tut mir leid“, entgegnet der Mann nur. „Was sollen wir tun, wir warten schon ewig“, ruft jemand. Die Antwort: „Klingeln.“ „Es kommt aber keiner“, wendet Stephan ein. „Einfach weiter klingeln“, kommt die fast zynisch anmutende Entgegnung.

Auch am Flughafen Hamburg haben sich an den Abfertigungsschaltern lange Schlangen gebildet. Als zynisch empfindet die Situation ein finnisches Ehepaar, das am Flughafen Hamburg im Terminal 2 auf seinen Flug nach Frankfurt wartet. Der Flug wurde gestrichen. „Erst sagten sie uns, wir werden auf einen späteren Flug umgebucht. Jetzt ist der aber auch annulliert worden“, erzählt die Frau der JF frustriert. Eine Mitarbeiterin der Lufthansa kommt auf das Paar zu, zwei Zettel in der Hand. Gutscheine für eine Hotelübernachtung. Die beiden sollen nun erst am nächsten Tag fliegen. Sie verlassen die mittlerweile quer durch die Halle verlaufende Schlange, begeben sich zu einem direkt am Flughafen befindlichen Hotel. Und erleben die nächste böse Überraschung. „Wir sind aufgrund der aktuellen Situation leider ausgebucht“, verkündet dort die Rezeptionistin. 

Das Paar will nun mit der Bahn nach Frankfurt fahren. Dabei könnten sie schnell die nächsten unangenehmen Erfahrungen mit der verkehrlichen Infrastruktur „Made in Germany“ machen.

Lesen Sie in der kommenden Ausgabe Teil 2: „Das Chaos auf Deutschlands Schienen“