© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 29/22 / 15. Juli 2022

Was, wenn es wieder passiert?
Ein Jahr nach den tödlichen Überschwemmungen im Ahrtal ist die Not noch nicht ausgestanden: Viele Menschen leben auf Dauerbaustellen, Gelder vom Staat oder Versicherungen fließen zögerlich, Nachbarn helfen einander über das Gröbste hinweg. Die Staatsanwaltschaft Koblenz ermittelt gegen Verantwortliche. Eine Reportage aus dem am schwersten getroffenen Landkreis Ahrweiler
Martina Meckelein

In der Nacht vom 14. auf den 15. Juli 2021 starben in Rheinland-Pfalz und Nordrhein-Westfalen über 186 Menschen. Europaweit verloren mindestens 220 Menschen ihr Leben. Sie ertranken, wurden von Trümmern erschlagen, starben durch Unterkühlung. Tausende wurden obdachlos. Hunderte von Häusern wurden zerstört. Den Schaden beziffern Versicherungen allein in Deutschland auf 33 Milliarden Euro. Zwei Untersuchungsausschüsse suchen nach Schuldigen. Oder wollen sie doch nur dem politischen Gegner schaden? Die Staatsanwaltschaften ermitteln. Ein 30 Milliarden Euro schweres Hilfspaket ist festgezurrt. Doch viele Menschen vor Ort warten auf das Geld und müssen erst in Vorleistung gehen. Die JUNGE FREIHEIT hat mit Betroffenen gesprochen. Das Ahrtal: ein Jahr nach der Katastrophe – zwischen Verzweiflung und Hoffnung.

„‘Unbürokratisch’ lautet bei uns das Unwort des Jahres“, sagt Thorsten Rech aus Mayschoß. „Im Ahrtal ist es regelrecht zu einem Schimpfwort geworden“, sagt der Gastronom und Weinhändler. Er erlebte die Flut-Nacht in seiner Gaststätte „Bahnsteig 1“, dem alten Bahnhofsgebäude. „Neun Meter war bei mir ums Haus rum die Welle“, erinnert er sich. Das Wasser war bis in den ersten Stock gestiegen. Das Erdgeschoß wurde teilweise weggerissen. Dabei starben zwei Touristen (JF 30-31/21).

Vor einem Jahr war Mayschoß von der Außenwelt abgeschlossen. „Ich selbst wurde damals mit einem Hubschrauber evakuiert“, erzählt er. Wer heute von Bad Neuenahr auf der B 267 über Dernau nach Mayschoß fährt, wundert sich. Im Kießbett schlängelt sich die schmale beschauliche Ahr. Die Sonne scheint, die Weinstöcke stehen in hellem Grün. Doch wer sich dann entlang der teilweise immer noch kaputten und stellenweise nur noch einspurigen Bundesstraße die zerstörten Häuser und abgerissenen Brücken anschaut, der ahnt, mit welcher enormen zerstörerischen Wucht die Wassermassen durch das schmale Tal geschossen sein müssen und alles, was sich ihnen entgegenstellte, zerschmetterten oder zusammenfalteten, als ob es aus Papier sei. Meterhoch türmte der Fluß Baumstämme und Caravans an Brücken und Engstellen auf.

Die Hilfen zu beantragen ist kompliziert und umständlich

Wie Rech mit privaten Helfern innerhalb dieser zwölf Monate sein schwer verwüstetes Zuhause wieder aufbaute, das ist schon sagenhaft. Schlamm wegschaufeln, Weinflaschen sichern, Fundamente neu gießen. Das Gebäude steht unter Denkmalschutz. „Die originalen, massiven Holzfenster auf der Rückseite haben die Helfer ausgebaut, geputzt, wieder eingebaut. Hier knirscht nichts mehr“, sagt Rech. Kostenersparnis: „Mindestens 25.000 Euro“. Hätte er Plastikfenster gehabt, sie wären nicht zu retten gewesen. „Der Schlamm wäre in jede noch so schmale Falz geflossen.“ Er habe sich, sagt er, zu einem Experten in Sachen „Hilfen beantragen“ entwickelt. „Das ist unfaßbar kompliziert, gerade als Gewerbetreibender. Wieviel ist denn ein Kombi­dämpfer oder ein Stuhl noch wert?“ Das herauszufinden sei nicht so einfach: „Die Wertermittlung liegt irgendwo zwischen Buchwert, Neuwert, Zeitwert und Wiederbeschaffungswert ...“

Um einen Antrag bei der Investitions- und Strukturbank Rheinland-Pfalz (ISB) stellen zu können, muß erst einmal alles mit der Versicherung geklärt sein. „Das hat bei mir elf Monate gedauert“, sagt Rech. „So verrückt sich das anhört, aber wer keine Gebäudeversicherung hatte, konnte mit dem Wiederaufbau gleich anfangen. Ich habe eine Lücke von 350.000 Euro, die jetzt durch Staatshilfe gedeckt werden soll.“ Laut der Bank sind zum Stand 4. Juli 2022 insgesamt 11.961 Anträge für Aufbauhilfen für Hausrat (9.787 Anträge), Gebäude (1.909 Anträge) und Unternehmen (265 Anträge) eingegangen, die einen sogenannten Identifizierungsprozeß durchlaufen haben: sprich, alle notwendigen Unterlagen waren vorhanden. Davon wurden bisher 10.918 Anträge bewilligt mit einem Volumen von 538,4 Millionen Euro. Der Traum des Vierzigjährigen ist es, Silvester im „Bahnsteig 1“ wieder feiern zu können. „Wir brauchen Visionen“, sagt er augenzwinkernd, „aber Prognosen gebe ich lieber nicht ab.“

Die Frage nach der Schuld an den verheerenden Todeszahlen wurde früh aufgeworfen. Allerdings nicht beantwortet. So schob der damals noch amtierende Landrat des Kreises Ahrweiler, Jürgen Pföhler (CDU), die Verantwortung von sich. Der SWR hatte ihn am 29. Juli 2021 im Interview befragt. Der Sender hat es dokumentiert: „Reporter (29.7.2021): ‘Würden Sie für sich sagen, Sie haben da an dem Mittwochabend Fehler gemacht?’ Jürgen Pföhler, CDU, Landrat Ahrweiler (29.7.2021): ‘Nein, die Frage stellt sich nicht, weil ich war ja gar nicht Teil der Technischen Einsatzleitung.’“

Und dieses Interview sieht der pensionierte Finanzbeamte Willi Tempel zu Hause in Dernau im Fernsehen. Tempel hat die Katastrophennacht zu Hause erlebt. Sein Haus steht erhöht. „Wir wurden selbst nicht überschwemmt, aber wenn ich heute an diese Tage und Nächte denke, bekomme ich noch Gänsehaut. Schauen Sie“, sagt er und zeigt seine Unterarme, und ihm stehen wirklich die Haare zu Berge. Tempel war lange Jahre im BUND aktiv, er ist gut vernetzt im Kreis. „Es hatte tagelang geregnet“, sagt er gegenüber der JF. „Ich bekam an dem Tag immer mehr Flutfotos aus Internet-Gruppen zugesendet. Ich sagte meiner Familie, daß wir ein Hochwasser kriegen, wie wir es noch nie hatten.“

Tempel erinnert sich an das wahnsinnige Rauschen in der folgenden Nacht, an die Autos, „die wie Streichholzschachteln vorbeischwammen, und dann an diese Todesruhe“. Um Mitternacht plötzlich ein Klopfen an der Tür. Zwei Freunde bitten um Hilfe, ihr Haus ist vollgelaufen. „Sie standen bei sich bis zur Brust im Wasser, ein Enkel räumte sofort sein Zimmer für sie. Sie blieben zwei Monate.“

Tempel saß für die Grünen acht Jahre im Kreistag. Er kennt Landrat Pföhler persönlich. „Das Interview verwunderte mich doch sehr“, sagt er jetzt. Mit seiner Stellungnahme schien Pföhler die Schuld auf den ehrenamtlichen Brand- und Katastropheninspekteur des Kreises abschieben zu wollen. Gleich am folgenden Tag damals, dem 30. Juli 2021, erstattet er Strafanzeige gegen den seinerzeit noch amtierenden Landrat. „Der Landrat war oberster Katastrophenschützer. Von Amts wegen durfte er diese Aufgabe gar nicht delegieren.“ Tempel verschickt seine Anzeige, die der JUNGEN FREIHEIT vorliegt, per Einschreiben an die Staatsanwaltschaft Koblenz.

Am 2. August prüft die Staatsanwaltschaft, ein Ermittlungsverfahren einzuleiten wegen des Anfangsverdachts der fahrlässigen Tötung und fahrlässigen Körperverletzung. Um dann am 6. August zu einer Pressekonferenz einzuladen. Und dazu schreibt sie, daß sie „am 4.8.2021 Ermittlungen wegen des Verdachts der fahrlässigen Tötung und der fahrlässigen Körperverletzung durch Unterlassen im Zusammenhang mit der Unwetterkatastrophe am 14./15.7.2021 im Ahrtal aufgenommen“ habe. Der Anfangsverdacht richte sich gegen den Landrat, weil dieser nach den Regelungen des Landesbrand- und Katastrophenschutzgesetzes Rheinland-Pfalz möglicherweise die Einsatzleitung und alleinige Entscheidungsgewalt hatte. 

Allerdings ermittle sie ebenfalls gegen ein weiteres Mitglied des Krisenstabs: einen Feuerwehrmann, der zumindest zeitweise den Einsatz leitete. „In dem Moment, in dem der Mann auch nur angeklagt wird, werden hier im Ahrtal alle Freiwilligen Feuerwehrleute die Arbeit niederlegen. Das versichere ich Ihnen“, sagt Tanja Lingen, und bei diesen Worten lächelt die Hotelfachfrau „und erfolgreiche Klein-Familienunternehmerin“ ausnahmsweise einmal nicht. Gemeinsam mit ihrem Mann betreibt die Fünfzigjährige ein Weingut in Hemmessen. Seit 1599 sind die Lingens Weinbauern. Die 6,5 Hek­tar liegen im Umkreis von sieben Kilometern um das Dorf. „Alles Steillagen in Heppingen, Bachem, Neuenahr, Ahrweiler und Heppingen.“ Lingen baut überwiegend Spätburgunder, Frühburgunder, Grau- und Weißburgunder an. „Wir waren schwer betroffen von der Flut“, erinnert sie sich. „Wir dachten immer: Wenn das Wasser kommt, dann vom Flußbett hoch. Aber es kam von oben, von der Straße! Unser Weinkeller lief als erstes voll – und das war ein Glück, sagte uns später der Statiker. Denn das Wasser im Keller drückte von unten gegen die Kellerdecke, die so dem Wasserdruck von oben standhielt und nicht einbrach.“

„Wer übernimmt die Verantwortung für das späte Warnen vor der Flut?“

Auch Lingen räumte ihre Ferienwohnungen für obdachlose Ahrtaler. „Eine Selbstverständlichkeit.“ Die freiwilligen Helfer schleppten auch bei ihr kubikmeterweise den Schlamm raus. „Dann haben wir die Weinfässer geputzt. Ich wußte vorher nicht, wie viele Ventile, Gummiringe, Schrauben und Manschetten an diesen Behältern sind“, erzählt sie wieder lächelnd. „Winzer halfen uns, die Fässer wieder aufzustellen, das kann ja kein Laie.“ Lingens waren nicht versichert. „Wir sind auf die landeseigene Bank angewiesen. Man hatte uns schnelle und unbürokratische Hilfe zugesagt. 30 Seiten Anträge, drei Gutachten für Gebäude, Wein und Weinbaugeräte müssen erstellt werden. Zwei Gutachten habe ich schon, beim dritten sind wir noch am Rechnen, weil manches eben doch repariert werden konnte. Wir haben noch keinen Antrag abgegeben, jetzt gehen wir an unsere Altersversorgung ran, haben schon 150.000 Euro selbst gezahlt. Wir haben zum Glück gut gewirtschaftet, aber viele lebten hier von der Hand in den Mund, denen geht es finanziell miserabel.“ Lingens haben alles auf Gas umgestellt. „Über das aktuelle Gaslieferproblem will ich jetzt gar nicht nachdenken.“

Was Tanja Lingen allerdings umtreibt, ist eine unbeantwortete Frage: „Wer übernimmt die Verantwortung für das späte Warnen vor der Flutwelle?“ sagt sie. „Zwei Ministerinnen sind zurückgetreten, aber unser Landrat, der hat sich einfach aus dem Staub gemacht – als Altenahr und Schuld schon am Absaufen waren. 134 Tote im Tal, zwei sind noch vermißt. Diese Menschen hätten doch gerettet werden können.“

In den Dörfern an der Ahr wollen die Menschen wohnen bleiben. Doch in Bad Neuenahr sieht das anders aus. Im Maklerbüro an der Fußgängerzone hängen Immobilienangebote aus. „Zu verkaufen – Flutschaden“. Auch Uli Becker aus Bad Neuenahr will wegziehen. „Wir haben keinen Flutschaden, aber meine Frau und ich sind zu alt“, sagt er. „Der Wiederaufbau wird noch fünf bis zehn Jahre dauern“, schätzt der 81 Jahre alte Rentner. „Ich mag mich in meinem Alter nicht jeden Tag an eine neue Verkehrsführung und neue Baustellen gewöhnen. Wir überlegen uns, nach Bad Kissingen zu ziehen.“

Doch nach der Flut ist vor der Flut. Der Himmel ist bleigrau. Und manche Spaziergänger im Ahrtal schauen skeptisch in den Himmel. „Der Klimawandel ist zu einer puren Überlebensfrage für uns alle geworden“, ist sich Willi Tempel sicher. „Das machte uns die Hochwasserkatastrophe quasi über Nacht klar. Bis dato war das immer weit weg von uns.“ Er sieht aktuell in einigen Planungen und Baumaßnahmen gravierende Fehler für die Zukunft. „Durch Baggerarbeiten bekam die Ahr schon wieder ein zu enges Korsett. Auch Auenbereiche und Biotope wurden Opfer dieser Maßnahmen.“ Ein Dorn im Auge sind ihm die Camping- und Wohnmobilplätze. „Die schlimmen Fotos der zerstörten Brücken beweisen, daß dort auffallend viele Campingwagen und Wohnmobile verkeilt waren.“ Er fordert, statt den Bewuchs an den Gewässern zu entfernen, ihn besser zu pflegen. Und statt Staudämmen ausreichend dimensionierte Polder an den Zuflüssen der Ahr zu bauen. Aber Tempel legt ebenfalls Wert darauf, nicht alles skeptisch zu sehen. „Die Krisenstäbe hier haben über Monate Enormes geleistet. In Dernau, Rech und Mayschoß laufen die Planungen für eine autarke Nahwärmeversorgung.“ Tempel ist bei der IG Ahrtalbahnfreunde aktiv und lobt: „Die zerstörte Ahrtalbahn zwischen Ahrbrück und Walporzheim wird nach dem neuesten Stand der Technik wieder aufgebaut und bis Remagen elektrifiziert.“

Foto: Verwüsteter Weinort Mayschoß im Ahrtal: Alle auf dem Foto sichtbaren Gebäude sind durch das reißende Hochwasser so stark angegriffen, daß sie abgerissen werden müssen