© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 29/22 / 15. Juli 2022

Endlich Zeit für den Friseur
Boris Johnson: Der britische Premier kann auf eine glänzende Amtszeit blicken – fast im Alleingang hat er den Brexit durchgefochten
Julian Schneider

Clown, Demagoge, Narzißt und Spinner – die Liste der schmeichelhaften Bezeichnungen für Boris Johnson in vielen eher linken Medien anläßlich seines Abgangs ist lang. Doch an einem kommen sie nicht vorbei: Der schillernde Premier hat Geschichte geschrieben. Der Brexit ist Johnsons bleibendes Erbe, das auch seine Gegner schlucken müssen. Ohne ihn wäre das Referendum im Juni 2016 anders ausgegangen, ohne sein rabiates Vorgehen wäre die Blockade von Brexit-Gegnern im Parlament 2019 nicht überwunden worden.

„Indem er Britanniens fast fünfzigjährige EU-Mitgliedschaft beendet und es vom ‘schwierigen Partner’ Europas wieder zu einem unabhängigen souveränen Nationalstaat gemacht hat, wird Boris Johnson als Premier in die Geschichtsbücher eingehen, der tatsächlich beanspruchen kann, die Richtung des Landes fundamental verändert zu haben“, sagt Matthew Goodwin, Politikprofessor an der Universität von Kent und Autor der vielbeachteten Bücher „Revolte auf der Rechten“ und „National-Populismus“. Ob sie nun gut oder schlecht sein mögen, „die Folgen seiner Premierministerzeit werden noch für Jahrzehnte zu spüren sein“, ist Goodwin überzeugt. Die heftigen Reaktionen, die Johnsons Rücktritt vor einer Woche bei europhilen Politikern und Medien auslösten, haben damit zu tun. „Clownfall“ titelte das Magazin The Economist über Johnsons Abgang, der Spiegel zeigte ihn einmal mehr als „Mad“-Version. „Die eine Lüge zuviel“, so die Titelzeile. „Der Clown geht, das Chaos bleibt“, meint das Hamburger Magazin.

Kein anderer britischer Premier der jüngeren Vergangenheit hat so polarisiert: Von seinen Anhängern lange Zeit als jovialer Kumpel geliebt, im Dezember 2019 in der Parlamentswahl mit triumphalem Sieg gegen den Labour-Sozialisten Jeremy Corbyn bestätigt, hat Johnson bei Labour und Liberaldemokraten, bei der Schottischen Nationalpartei und den irischen Republikanern nur Abscheu erregt. Nur Margaret Thatcher, die Britannien ähnlich fundamental veränderte, löste einst noch tiefere Haßgefühle aus. Was Boris Johnson nach nur knapp drei Jahren in der Downing Street Nr. 10 das Genick brach, ist sein fahrlässiger Umgang mit der Wahrheit. Die „Pincher-Affäre“ war der Tropfen, der das Faß zum Überlaufen brachte. Johnson waren schon vor der Ernennung Chris Pinchers zum Vize-Fraktionsgeschäftsführer Beschwerden bekannt, daß der homosexuelle Politiker andere Männer begrapscht habe. Diese letzte Affäre löste eine Lawine aus. Die Wagenburg im Kabinett kollabierte mit den Rücktritten von Finanzminister Rishi Sunak und Gesundheitsminister Sajid Javid. Mehr als vierzig Minister, Staatssekretäre und Regierungsberater gingen dann innerhalb von 48 Stunden von der Fahne und zogen Johnson den Boden unter den Füßen weg.

Mit seinen Memoiren könnte Johnson wohl Millionen verdienen

Dieser Kollaps zeichnete sich schon vorher ab. Am sechsten Juni hatte ihm die Fraktion mit der blamablen Vertrauensabstimmung (41 Prozent stimmten gegen ihn) eine letzte Warnung ausgesprochen. Die monatelangen Schlagzeilen zur Partygate-Affäre um feuchtfröhliche Runden während der Lockdown-Monate hatten seine Popularitätswerte abstürzen lassen. Johnsons Humor, die unkonventionelle Art dieses Politikers, der sich von der grauen Masse abhob, half ihm nicht mehr. Die Mehrheit der Bevölkerung und auch der Tory-Partei war seiner überdrüssig.

In seiner trotzig-selbstbewußten Rücktrittsrede vor der Downing Street 10 hob er mehrere Leistungen hervor: neben dem vollzogenen Brexit die schnelle Impfkampagne auf der Insel und ein früheres Ende der Corona-Lockdowns als im Rest Europas, zuletzt die Unterstützung der Ukraine. Johnsons Rede vermied jegliches Bekenntnis, daß er Fehler bedauere. Nur einmal schimmerte Trauer durch: „Sie sollen wissen, wie traurig ich bin, den besten Job in der Welt aufzugeben. Aber so ist das Leben.“ Hinter ihm standen verbliebene Getreue wie Brexit-Minister Jacob Rees-Mogg und Bildungsministerin Nadine Dorries. Seine junge Frau Carrie, mit Baby Romy in einer Bauchtragetasche, zeigte sich überraschend fröhlich. Carrie hatte den Skandal um die teuren Tapeten und die Neuausstattung der Dienstwohnung mitverursacht. Der 58jährige Johnson beklagte sich gegenüber Freunden öfter, er sei „pleite“: Künftig wird er mit Memoiren und Reden wohl Millionen verdienen.

Nun ist der Kampf um den Tory-Parteivorsitz mit voller Wucht entbrannt und gut ein Dutzend Kandidaten haben sich in Stellung gebracht. Ex-Schatzkanzler Rishi Sunak gilt in einigen britischen Medien als Favorit, doch dicht hinter ihm rennen mehrere Herausforderer, etwa die Handelsministerin Penny Mordaunt und der Außenpolitiker Tom Tugendhat. Die meisten Kandidaten wollen mit dem Versprechen niedrigerer Steuern punkten, darunter Außenministerin Liz Truss, die sich als Thatcher-Klon zu präsentieren versucht, und der zentristische Ex-Gesundheitsminister Jeremy Hunt. Auch der seit einer Woche amtierende Schatzkanzler Nadhim Zahawi sowie Ex-Gesundheitsminister Javid sind in das Rennen eingestiegen, greifen Sunaks Steuererhöhungen an und stellen Entlastungen in Aussicht.Unklar ist, wie das alles zu finanzieren sein wird. „Die Konservativen zerreißen sich gegenseitig wegen der Steuern“, titelte die Sunday Times. Eingefleischte Brexiteers und Johnson-Loyale wie Jacob Rees-Mogg attackieren Sunak als „Verräter“ und gescheiterten „Hochsteuer-Minister“. Der schwerreiche Ex-Investmentbanker aus einer einfachen indischen Einwandererfamilie galt während der Corona-Zeit als politisches Wunderkind, als geborener Nachfolger für Johnson. Doch sein Stern sank, nachdem die Krise der steigenden Lebenshaltungskosten die Briten immer stärker traf und dann noch ein Steuerskandal um seine Ehefrau, eine indische Milliardärstochter, hinzukam. Sunak bleibt dennoch ein starker Kandidat.

Stammt der nächste Premier aus den ehemaligen Kronkolonien?

Einige rechtskonservative Tory-Abgeordnete drängen Innenminister Priti Patel zu einer Kandidatur, die sich mit einem Hardliner-Kurs gegen illegale Immigration zu profilieren versucht. Illegale Bootsmigranten am Ärmelkanal will sie nach Ruanda abschieben. Nur Außenseiterchancen haben Suella Braverman, die indischstämmige Generalanwältin, sowie die junge schwarze Ex-Staatsministerin Kemi Badenoch, die als Geheimwaffe gegen linke Kulturkämpfer und als „Anti-Woke-Kämpfer-Prinzessin“ gilt, so der Journalist Toby Young. 

Auffällig an dieser konservativen „Leadership Race“ ist, wie viele Politiker aus Einwandererfamilien (Sunak, Zahawi, Javid, Patel, Braverman, Badenoch) daran teilnehmen. Einige Farbige tendieren klar zur Parteirechten. Die Wahrscheinlichkeit ist nicht ganz gering, daß der nächste Führer der Tory-Partei und damit der nächste Premierminister von Großbrittanien erstmals ein Nicht-Weißer sein wird.

Foto: Vollblut-Politiker: Boris Johnsons unermüdlicher Einsatz für den Brexit ist mittlerweile Gemeingut der britischen Politik geworden