© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 29/22 / 15. Juli 2022

Mehr Schaden als Nutzen
Rußlandsanktionen: Ein EU-Energiezoll statt Embargo und Preisdeckel wären sinnvoller
Dirk Meyer

Rußland ist mit seinem völkerrechtswidrigen Angriffskrieg der Verursacher der Energieverknappung, steigender Öl- und Gaspreise, der Inflation und der Wachstumsschwäche. So jedenfalls lautet mehrheitlich die Sichtweise zu den ökonomischen Folgen des Ukraine-Krieges. Sie setzt zwei Bedingungen voraus: Der Krieg war nicht zu verhindern. Doch zumindest spekulativ stellt sich die Frage, ob das Blutvergießen nicht durch eine Respektierung russischer Interessen mit Verhandlungen und internationalen Garantien zur Ukraine als neutraler Staat hätte vermieden werden können.

Sodann müßte Wladimir Putin die Verknappung aktiv betrieben haben – oder im Umkehrschluß: Die westlichen Sanktionen haben keinerlei Einfluß auf die Krise. Ganz offensichtlich ist die zweite Voraussetzung nicht gegeben. Mit der Entscheidung der Bundesregierung, zwei Tage vor Kriegsbeginn Nord Stream 2 durch den Stopp des Zertifizierungsverfahrens nicht an das Netz gehen zu lassen, wurde deutscherseits der erste Schritt zu einer „Gasmangellage“ getan. Im Juni wurde die Gaslieferung durch die Ostseepipeline Nord Stream 1 drastisch reduziert und am 11. Juli ganz eingestellt.

Zuteilung knapper Gaslieferungen an die wichtigsten Produzenten?

Ob ab 22. Juli – nach Beendigung der Routinewartung sowie dem Einbau einer in Kanada gewarteten und bislang zurückgehaltenen Pipelineturbine von Siemens Energy – Gazprom wieder liefert, ist offen. Auch die Transgaz-Leitung, die via Ukraine, Slowakei und Tschechei den unverzichtbaren Rohstoff nach Deutschland transportiert, wurde Ende Juni stark heruntergefahren. Denn „Gas wird als Waffe gegen Deutschland eingesetzt“, meinte Wirtschaftsminister Robert Habeck. „Diese Strategie darf nicht erfolgreich sein“, so der Grünen-Politiker. Doch ist das noch zu verhindern? Der Ausschluß russischer Banken vom Zahlungsverkehrssystem Swift und das EU-Verbot, Rechnungen in Rubel zu bezahlen, hat die Unsicherheiten im Energiesektor erhöht und die Preise weiter getrieben.

In der Folge hat Rußland in den ersten fünf Monaten des Jahres durch den Öl- und Gasexport 1,8mal soviel verdient wie im Vorjahreszeitraum. Das EU-Erdöl-Embargo ab 2023 (ohne Pipeline-Öl) wird die hiesige Verknappung verschärfen. Hingegen trifft das Embargo für technische Güter die russische Wirtschaft erheblich – etwa im Flugverkehr: Es fehlen nicht nur Ersatzteile für Airbus- und Boeing-Jets, sondern auch westliches High-Tech für die eigene russische Luftfahrtindustrie.

Doch die Sanktionen wandeln die beiderseitigen Wohlfahrtsgewinne bei freiem Handel in eine Lose-Lose-Situation. Keiner kann gewinnen. Es bleibt lediglich die Option, die relativen Verluste des Gegners zu erhöhen – wobei auch hier die absoluten Verluste des Initiators steigen können. Hinzu kommen teils irrationale Vergeltungsmaßnahmen, die gerade vom Kreml nicht auszuschließen sind. Schließlich entsteht eine Spirale der Eingriffe: hohe Energiepreise werden sozial ausgeglichen; es findet eine Zuteilung knapper Gaslieferungen an die wichtigsten Produzenten statt.

Doch was wäre eine intelligente europäische Sanktionspolitik, um auf die russische Aggression zu reagieren? Auf dem jüngsten G7-Treffen wurde ein Preisdeckel für russisches Erdöl ins Auge gefaßt. Indirekt ist es das Eingeständnis, daß die Embargopolitik eher Rußland in die Hände spielt und die Europäer belastet. Zugleich werden die Energieexporteure USA, Kuwait, Saudi-Arabien, Iran, Venezuela & Co. durch hohe Preise bevorteilt. Deshalb wäre eigentlich ein Preisdeckel für jegliche EU-Ölimporte die Konsequenz, um solche „Übergewinne“ abzuschöpfen. Allerdings wirkt das nur, wenn auch China, Indien und Indonesien als Großabnehmer diesem Nachfragekartell beitreten. Doch nicht nur Indien nutzt die Preisabschläge auf russisches Öl, um durch Wiederverkäufe Differenzgewinne einzufahren.

Moralisch gutes Gefühl um jeden sozialen und ökomischen Preis?

Überlegenswert wäre deshalb ein Importzoll auf russisches Erdöl und Erdgas, der zwei Effekte hätte: Zum einen fließen dem deutschen Fiskus oder der EU zusätzliche Zolleinnahmen zu. Zum anderen erhöht der Energiezoll den (Brutto-)Preis für die Nachfrager, weshalb diese ihre Käufe weiter reduzieren. Da der russische Exporteur einen geringeren (Netto-)Preis bekommt, schränkt auch er sein Angebot ein. Im Ergebnis ist der Zollsatz höher als der Preisanstieg für die Nachfrager, da die gehandelte Menge zurückgeht. Rußland erzielt weniger Exporterlöse, und die EU könnte die Zolleinnahmen zum Ausgleich an die Verbraucher und Unternehmen umverteilen. Gegenüber einem Boykott hätte ein Zoll zudem den Vorteil der Flexibilität der Sanktionsstärke durch eine Änderung des Zollsatzes. In Abhängigkeit der Lage kann der Druck auf Rußland schnell variiert werden.

Die Aufteilung der Lasten der in die Staatsetats fließenden Energiezolleinnahmen auf die Nachfrager und Exporteure hängt von den Marktverhältnissen ab. Man spricht von einer „Zollüberwälzung“. Entscheidend ist, wie stark die europäischen Nachfrager ihre Öl- bzw. Gas-Nachfrage bei steigenden Preisen reduzieren und umgekehrt, wie stark die russischen Exporteure ihre Lieferungen einschränken. Die Last des Zolls wird für diejenige Marktseite um so geringer ausfallen, je relativ stärker diese auf die Preisänderung reagiert.

Deshalb ist die Nachfragezurückhaltung der Konsumenten und Produzenten so wichtig – kurzfristig durch Öl- und Gas-Einsparungen, mittelfristig durch neue Bezugsquellen, langfristig durch andere Energiequellen (erneuerbare Energien, „grüner“ Wasserstoff aus der Elektrolyse mittels Sonnenstroms). Aufgrund des relativ flexibleren Angebots an russischem Öl wäre es wirkungsvoller, die Gasimporte – soweit sie noch stattfinden – mit einem Zoll zu belegen. Allerdings übersteigt der Wert der russischen Ölimporte in die EU die Erdgasimporte um etwa 400 Prozent, so daß ein Zoll hier besonders attraktiv erscheint.

Nicht unbeachtet bleiben sollte jedoch das Risiko einer irrationalen Vergeltung. So könnte als Reaktion ein vollständiger russischer Exportstopp folgen. Die Kritik an der westlichen Sanktionspolitik ist damit keinesfalls eine Parteinahme für Rußland, wie Olaf Scholz im Bundestag meinte. Trotz eines moralisch guten Bauchgefühls sollte für die Politik die „1-G-Regel“ Vorrang haben – die Anwendung des gesunden Menschenverstandes. Dies hat auch US-Finanzministerin Janet Yellen erkannt, die den Europäern aus eigenem Inflations- und Wirtschaftsinteresse davon abrät, russische Öllieferungen vollständig zu boykottieren.






Prof. Dr. Dirk Meyer lehrt Ökonomie an der Helmut-Schmidt-Universität Hamburg.

Foto: Kaltduscher im Freibad Hiddesen in Detmold, das nicht mehr mit Gas beheizt wird: Die Kritik an der westlichen Sanktionspolitik ist keine Parteinahme für Präsident Wladimir Putin