© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 29/22 / 15. Juli 2022

Diese Kugel kostet eine Billiarde Euro
20 Jahre Energiewende: Eine Gruppe von renommierten Spezialisten zieht Bilanz: Die Poltik ist nicht gescheitert, doch es klaffen große Lücken zwischen Wunsch und Wirklichkeit
Mathias Pellack

In der durch die Ukraine-Krise angespannten Lage auf dem Energiemarkt finden hochdotierte Experten harte Worte gegen die Energiewende: Die Kosten seien kaum bezifferbar, die nötigen Technologien nicht einsatzfähig und die bestehenden Stromnetze nicht fähig, die kommenden zusätzlichen Lasten aufzunehmen.

Kopf der Veranstaltung am vorigen Wochenende in Stuttgart ist André Thess, Lehrstuhlinhaber für Energiespeicherung an der Universität Stuttgart. Er hat unter dem Thema „Zwanzig Jahre deutsche Energiewende – Wissenschaftler ziehen Bilanz“ eine Gruppe renommierter Kritiker des deutschen Sonderwegs zusammengeführt. Darunter Michael Beckmann, Dekan der angesehenen Fakultät für Maschinenwesen der TU Dresden, und Harald Schwarz, der den Bereich Energieverteilung und Hochspannungstechnik an der Brandenburgischen TU Cottbus leitet und Ulrich van Suntum, Volkswirtschaftler der Universität Münster im Ruhestand.

Energieversorgung der deutschen Industrie steht akut auf dem Spiel

Die große Unsicherheit auf der Kostenseite beschrieb van Suntum der JF: „Die grundlegenden Arbeiten aus Sicht der Wirtschaftswissenschaften betrachten alle nur Teilgebiete der Energiewende. Die wahren Kosten schätze ich nur beim Anblick der gemachten Studien höher.“ 2015 errechnete das Fraunhofer-Institut Ausgaben in Höhe von maximal 1.100 Milliarden Euro für den Zeitraum bis 2050. Die tatsächliche Höhe variiere mit dem anvisierten Klimaziel. Hier würden zwar alle Sektoren erfaßt, aber Folgekosten wie die Entsorgung oder Wiederaufbereitung von notwendigen Batterien oder Windrädern seien genausowenig enthalten wie die Kosten durch den zusätzlichen Landverbrauch. Einzupreisen sei auch der Verlust an Arbeitsplätzen etwa bei Automobilzulieferern.

Kern der Veranstaltung bildeten die Vorträge von Michael Beckmann und Harald Schwarz, Professoren der TU Dresden und der B-TU Cottbus. Trotzdem die Politik schon lange an der Energiewende arbeite, herrschen selbst unter optimistischen Annahmen eklatante Lücken in der Energiesicherheit. 

Beckmann, Verfahrenstechniker in Dresden, machte deutlich, daß für die energieintensive Industrie noch keine Lösungen für eine stabile Vollversorgung mit Regenerativer Energie bereitstünden. Bewerte man den Technologischen Reifegrad (TRL) verschiedener Umwandlungsmethoden von Energieträgern nach Größenordnung in Megawatt (MW) gestaffelt, seien Systeme, die für die Großindustrie in Frage kommen, im Bereich 100 MW Leistung erst in Machbarkeitsstudien. Das ist TRL 2. Erst bei TRL 9 sei eine Marktreife erreicht. Für den Bereich mit 10 MW Leistung sehe es besser aus, aber auch hier klaffen noch große Lücken.

Ein Ruf aus der Zuhörerschaft vergleicht die Energiewende daher mit dem Sprung aus einem Flugzeug. Sobald man aus der Tür sei, beginnt das Nähen des Fallschirms. „Hier gehe es zum Teil um einen kompletten Energiewechsel, wie von Erdgas zu Wasserstoff. Selbst Behörden gehen davon aus, daß wir die Umstellung erst in mehr als zehn Jahren bewältigen können“, erwidert Beckmann. Energiesicherheit sei ein wichtiger Standortfaktor, daher gelte: „Ich kann erst etwas abschalten, wenn ich Ersatz geschaffen habe. Und wenn ich sehe, daß der Ersatz überhaupt noch nicht in der Lage ist, das zu erfüllen, was ich jetzt habe, dann ist es unverantwortlich abzuschalten.“ Der Frage, wie er mit der Politik über solche Erkenntnisse kommuniziere, begegnete Beckmann mit einer Anekdote: Er habe einst den Wirtschaftsminister auf den Mißstand in einem Brief hingewiesen. Der aber meinte nur, das schaffen wir schon.

Einen weiteren Aspekt der gleichmäßigen und sicheren Versorgung des Landes mit Energie, in diesem Fall mit Strom, ist die Belastungsfähigkeit des Netzes, für die Harald Schwarz einer der wenigen in Deutschland ist, der den Netzbetreibern Schulungen für die sogenannte „Schwarzstartfähigkeit“ anbieten kann. In einem nachgebauten Kontrollraum des Netzbetreibers 50 Hertz können verschiedenste Simulationen laufen, bis hin zum Komplettausfall eines ganzen Netzes, dem sogenannten Blackout.

Schwarz erklärt, das Hochfahren des Netzes sei in etwa einem Tag möglich. „Es dauert nicht eine Woche. Aber sie schaffen es auch nicht in einer Stunde“, erklärt er der JF. Problematisch für einen sauberen Start, aber auch für den täglichen Betrieb seien die Erneuerbaren wegen ihres geringen Anteils an gesichert verfügbarer Leistung. Besonders schlecht schnitten die Photovoltaik mit null Prozent Sicherheit und die Windenergie mit einem Prozent ab. Kernenergie und Braunkohle lieferten dagegen mit 93 respektive 92 Prozent den geforderten Strom. Das Argument der Befürworter, man müsse nur genug Leistung installieren und könne notfalls mit Nachbarländern handeln, widerlegte Schwarz mit dem Hinweis, daß wenn in Deutschland Nacht sei, auch in Polen Dunkelheit herrsche. Tatsächlich lasse sich auch zeigen, daß Wind ebenfalls in Großregionen auftrete. Oder eben nicht. Zusätzlich sind die Handelskapazitäten über Grenzen hinweg beschränkt.

Was passiert nach dem Blackout?

Schwarz trainiert

Eine grundlegendere Kritik formuliert An­dré Thess. Seit Jahrzehnten nutzen wir Computermodelle für die Berechnung des Klimawandels – oder jüngst auch für Corona. Diese Simulationen sind sehr berechtigt, wichtig und interessant, findet Thess. Sie würden aber zu selten klar in ihrer Aussagekraft eingeordnet, findet Thess. Deshalb schlägt er ein einfaches Bewertungssystem vor, mit dem auch für Laien erkennbar wäre, wie verläßlich die Voraussagen sind. Sowohl Ex-Umweltminister Jürgen Trittins berühmter Aussage, die Energiewende würde nur eine Kugel Eis pro Monat und Haushalt kosten, als auch den Corona-Maßnahmen lagen Modellierungen zugrunde. Allein im Klimaschutzgesetz würden an drei Punkten Simulationen eingesetzt, erklärt Thess. Auch der Ausstieg aus der Kohleverstromung und dem Verbrennungsmotor beruhten zum Teil darauf.

Diese Modellierungen können in drei Kategorien eingeteilt werden: „Wie Staaten, die verschiedene Glaubwürdigkeit vor Geldverleihern – also Kreditwürdigkeit – haben, könnte man Simulationen in die Kategorien A, B und C untergliedern.“ Die Idee dazu habe Thess übernommen und modifiziert. Simulationen der Kategorie A komme die höchste Glaubwürdigkeit zuteil, da diese eine Validierbarkeit verlange. Die gemachte Voraussage kann also im Experiment überprüft werden. Dies sei das Ideal. Hier könne man Abweichungen von den Vorhersagen um ein Prozent oder weniger erwarten. Gute Beispiele gebe es in der Quantenmechanik, die mit weniger als 0,1 Prozent Abweichung die Position von umeinander kreisenden Schwarzen Löchern voraussage, erklärte Thess der JUNGEN FREIHEIT.

Modelle der Kategorie B ließen sich nur teilweise überprüfen, der statistische Fehler belaufe sich auf bis zu zehn Prozent. Und schließlich gebe es Simulationen der Kategorie C, die auch nicht ohne Sinn seien, da sie helfen, die Zusammenhänge zu verstehen. Jedoch ließen sie sich nicht überprüfen, weil sie etwa ganze Systemzustände betrachteten, die nicht reproduzierbar seien. Die Abweichung von der Vorhersage könne 100 Prozent betragen – oder in Worten einfach das Gegenteil erwarten lassen.

Leider könne die Wissenschaft bisher über die für das Klimaschutzgesetz relevanten Klimawandelschäden und die Klimaanpassungskosten nur Aussagen der Kategorie B machen. Diese dürften mit einiger Sicherheit bezifferbar sein. Anders sehe das für die Klimaschutzkosten aus. Da das Klimaschutzgesetz aber gleichsam eine Argumentationskette darstellt. „Ist dieses Gesetz nur so stark wie das schwächste Glied in der Kette“, erklärte der ehemalige Student der TU Dresden den etwa 50 Zuhörern im Internationalen Begegnungszentrum der Universität Stuttgart. 

Der Schirmherr der Tagung, Werner J. Patzelt, der bis 2019 Politik an der TU Dresden lehrte, rahmte die Vorträge rednerisch ein. Man sei nicht hier, um Zweifel am Klimawandel zu formulieren oder die Energiewende zu verdammen. Vielmehr sei es aus seiner Sicht klug und weise, „wenn unsere Generation nicht die fossilen Rohstoffe allein als Treibstoff verbrennt. Daraus könnten spätere Generationen möglicherweise Sinnvolleres herstellen.“

Alle Vorträge der Konferenz werden auf dem Youtube-Kanal von André Thess hochgeladen.

Foto: Eine Kugel Eis: Soviel sollte laut Ex-Umweltminister Jürgen Trittin die monatlichen Kosten jedes Haushalts für den Umbau der Energiewirtschaft betragen.