© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 29/22 / 15. Juli 2022

Die Kampagne geht weiter
Berlin bestellt für Milliarden Euro Hunderte Millionen Corona-Impfdosen: 2,5 Millionen Impfnebenwirkungen 2021 von Ärzten festgestellt
Björn Harms / Mathias Pellack

Unaufhörlich warnt Karl Lauterbach vor der bevorstehenden Corona-Herbstwelle. Deutschland müsse vorbereitet sein, schlägt der Gesundheitsminister Alarm, andernfalls drohten erneut massive Einschränkungen für die gesamte Bevölkerung. Vor allem die Impfung spielt in der Debatte wieder eine größere Rolle. „Wir brauchen jetzt eine breit angelegte Auffrischungskampagne für die vierte Impfung“, forderte in der vergangenen Woche der grüne Bundestagsabgeordnete Janosch Dahmen. „Nicht nur bei den über 70jährigen, sondern auch den Jüngeren“, erklärte er und setzte sich damit sogar über die Empfehlung der Ständigen Impfkommission (Stiko) hinweg, die diese zweite Boosterung nur für Gefährdete und Menschen über 70 Jahren empfiehlt.

So viel Impfstoff, daß sich jeder achtmal impfen lassen könnte

Abhilfe schaffen soll unter anderem eine wiedererstarkte PR-Kampagne der Bundesregierung. Im Bundeshaushalt 2022 wurde nicht zuletzt aufgrund der erlahmenden Impfbereitschaft in der Bevölkerung erstmals der Bereich „Öffentlichkeitsarbeit für Maßnahmen zur Eindämmung der Corona-Pandemie“ geschaffen, für den immerhin 188 Millionen Euro eingeplant sind.

Noch im April erklärte das Bundesgesundheitsministerium (BMG) gegenüber der JUNGEN FREIHEIT, daß hierzulande auch weiterhin eine riesige Nachfrage bestehe: „Konservativ gerechnet gibt es in diesem Jahr einen Bedarf von 125 Millionen bis 165 Millionen Dosen“, hieß es damals. Entsprechend ließ der Minister bei den Pharmakonzernen nachkaufen. Doch wie passen diese Zahlen zur Realität? Das Impfdashboard des Robert-Koch-Instituts (RKI) liefert einen Überblick: Demnach wurden im ersten Halbjahr 2022 bislang rund 28,9 Millionen Corona-Impfungen verabreicht, mehr als zwei Drittel davon im Januar und im Februar. Danach ließ das Interesse stark nach. Auch kommen derzeit nur wenig Erstimpfungen hinzu. Die Lücke zu der angepeilten Zahl von 125 Millionen bis 165 Millionen verabreichten Impfungen im Jahr 2022 bleibt riesig. Kann sie im zweiten Halbjahr geschlossen werden? Oder droht wieder ein Verfall vieler Millionen Dosen?

Seit Pandemiebeginn listet das Impfdashboard alle Vakzin-Lieferungen des Bundes an Einrichtungen, in denen geimpft wird: Impfzentren, Apotheken, Arztpraxen etc. Die Zahl liegt derzeit bei etwa 205,5 Millionen Dosen. Dem steht eine Gesamtzahl von rund 183 Millionen verabreichten Impfungen seit Dezember 2020 gegenüber. Übrig bleiben also knapp 22,5 Millionen Einzelimpfungen, die auf ihren Einsatz warten. Dazu lagern zahlreiche Bestellungen im zentralen Lager des Bundes. Mit Stand 30. Juni 2022 seien dies „insgesamt ca. 97,8 Millionen Covid-19-Impfstoffdosen“, schreibt das Bundesgesundheitsministerium auf Nachfrage der JF. Sollten diese nicht verimpft werden, droht ein finanzielles Debakel.

Die ersten Einbußen gibt es bereits jetzt: Knapp vier Millionen Dosen verfielen zuletzt am 30. Juni. Daß es so kommt, war bereits im April bekannt, weshalb die Bundesregierung hektisch versucht hatte, die Haltbarkeit zu verlängern. Die Verlängerung genehmigen darf jedoch nur die EU-Kommission auf Antrag des jeweiligen pharmazeutischen Unternehmens bei Vorlage entsprechender Stabilitätsdaten. Doch die Daten reichten offenbar nicht aus, die Dosen sind nun unbrauchbar.

Viele Impfchargen, denen eventuell ebenfalls ein Verfall gedroht hätte, spendete die Bundesregierung ins Ausland. Mindestens 143 Millionen Impfdosen waren es bereits im März 2022. Das Problem: Schon seit geraumer Zeit will kaum ein Land die Spenden haben, weil sich immer weniger Menschen impfen lassen wollen. Die internationale Initiative Covax, hauptverantwortlich für die Verteilung von Impfstoffen in ärmeren Ländern, nimmt seit Monaten keine Lieferungen mehr an. Es mangele an „Logistik und Bedarf“, gibt auch das BMG gegenüber der JF zu.

Gleichzeitig versuchen die Pharmaunternehmen, den Druck hoch zu halten. Für neue Omikron-Impfstoffe sollten im besten Fall die Hürden gesenkt werden. Der Hauptlieferant Deutschlands, das Mainzer Unternehmen Biontech, hatte mehrfach versucht, die erneute Zulassung des bereits entwickelten Produkts ohne weitere Studien zu erreichen. Ursprünglich hieß es, der für die noch aktuellen Omikron-Varianten angepaßte Impfstoff solle im Frühjahr einsatzbereit sein. Minister Lauterbach hatte sich daraufhin Millionen der Präparate gesichert. Ähnlich erging es auch dem zweiten mRNA-Vakzin-Lieferanten Moderna. „Wenn die aufwendigen Zulassungsverfahren jetzt nicht vereinfacht werden, werden die aktualisierten Impfstoffe im Herbst zu spät kommen“, warnt Biontech-Chef Ugur Sahin in der Financial Times durchaus in eigener Sache. Doch bisher besteht die Europäische Arzneimittelagentur auf den altbewährten Sicherheitsverfahren und sieht eine Zulassung bis September als realistisch an. Auch die amerikanische Zulassungsbehörde FDA setzt nach den Erfahrungen der letzten zwei Jahre lieber auf Sicherheit.

Insgesamt hat sich die Bundesregierung seit Pandemiebeginn eine stattliche Gesamtmenge von rund 677,4 Millionen Impfstoffdosen vertraglich gesichert. Somit könnte sich jeder einzelne in Deutschland mindestens achtmal impfen lassen. Über die Hälfte der Bestellungen ging beim Hersteller BionTech/Pfizer ein (375,3 Millionen). Die Finanzierung der Einkaufstour ist vom Parlament schon beschlossen. Allein für die „Zuschüsse zur zentralen Beschaffung von Impfstoffen gegen Sars-CoV-2“ veranschlagt der Bund in seinem Haushalt 2022 knapp 7,1 Milliarden Euro. Im vergangenen Jahr waren es knapp 8,9 Milliarden Euro, womit sich der Betrag auf knapp 16 Milliarden Euro summiert. In einer kürzlich veröffentlichten Antwort der Bundesregierung auf eine Anfrage der AfD-Bundestagsfraktion heißt es jedoch: „Seit Pandemiebeginn hat die Bundesregierung rund 6,8 Milliarden Euro für Covid-19-Impfstoffe ausgegeben (Stand: 1. Juni 2022).“ Wie kommt diese Differenz von knapp 9,2 Milliarden Euro zustande?

Ganz einfach: Im Haushaltsplan finden sich nur die „voraussichtlich zu leistenden Ausgaben“, wie das BMG erklärt. „Die tatsächlich geleisteten Ausgaben (Ist-Ausgaben) ergeben sich nach Abschluß der Bücher.“ Das heißt: Zu den bislang ausgegebenen 6,8 Milliarden Euro könnten sich noch weitere finanzielle Mittel addieren.

Hohe Zahl von Todesfällen nach Impfung vom PEI heruntergespielt

Gänzlich ausgenommen von den Debatten rund um die Bestellung der Impfstoffe sind die Nebenwirkungen, über die immer mehr Menschen klagen und immer mehr Medien berichten. Zu mehr als einer Erwähnung des „Post-Vac-Syndroms“ konnte sich der Minister aber bisher nicht aufraffen. Tausende Betroffene melden sich und suchen nach Hilfe und Anerkennung. Müdigkeit, Erschöpfung, neurologische Ausfälle erkennt die Medizin inzwischen auch als Nebenwirkung der Impfung an. Symptome, die einer Infektion mit dem Virus sehr ähnlich sind, wenngleich es heißt, diese seien sehr selten. Das Uniklinikum Marburg ist eines der wenigen Krankenhäuser in Deutschland, die sich mit den als „Post-Vac-Syndrom“ zusammengefaßten Nebenwirkungen befassen. Dort warten inzwischen 3.000 Menschen auf eine ausführliche Untersuchung.

Der Kardiologe Bernhard Schieffer behandelt vor allem sportlich aktive Menschen und junge Frauen. Diese seien am häufigsten betroffen, sagt er vergangene Woche dem Bayerischen Rundfunk. „Sie haben Symptome, die wir alle heute als Long Covid kennen. Und wir sagen, es gibt diese Long-Covid-Symptome nach einer Corona-Infektion. Und es gibt sie in sehr, sehr geringem Maße auch infolge einer Corona-Impfung.“ Dieses Jahr konnte die Klinik 250 Menschen aus Deutschland, Österreich und der Schweiz behandeln. Schieffer schätzt die Zahl solcher Nebenwirkungen auf 0,02 Prozent bei etwa 183 Millionen verabreichten Impfungen in Deutschland. Das wären immerhin über 36.600 mögliche Betroffene.

Leider steckt die Forschung darüber noch in den Kinderschuhen, obwohl bereits einige Daten vorhanden sind. Diese wurden aber nicht verknüpft. Das für die Sicherheitskontrolle der Impfungen zuständige Paul-Ehrlich-Institut (PEI) erklärte Anfang Juni vor dem Bundesverwaltungsgericht in Leipzig, daß umfangreiche Patientendaten von den Kassenärztlichen Vereinigungen dem PEI „nach wie vor nicht zur Verfügung gestellt“ würden.

Beim Institut seien derzeit nur etwa 290.000 Meldungen über Nebenwirkungen nach Impfungen in Deutschland eingegangen, von denen rund 30.000 schwerwiegend gewesen seien, erläuterte Dirk Mentzer, im PEI für die Überwachung der Arzneimittelsicherheit zuständig, dem Gericht. Bei den gut 2.800 Todesfällen, die mit der Impfung in Verbindung gebracht wurden, sei eine genauere Aufklärung versucht worden. Daraus hätten sich aber keine Risikosignale ergeben, die als Warnung vor einem Impfstoff gewertet werden könnten, so Mentzer.

Wenige Wochen später erhielt der AfD-Bundestagsabgeordnete Martin Sichert von der Kassenärztlichen Bundesvereinigung (KBV) eine Antwort auf seine Frage nach den Nebenwirkungen der Corona-Impfungen im Jahr 2021. Die Frage hatte er bereits drei Monate zuvor gestellt. Demnach gab es 2.487.526 Nebenwirkungen, welche die Vertragsärzte der KBV gemeldet und abgerechnet hätten. Diese umfassen allerdings auch Nebenwirkungen aller anderen in Deutschland verabreichten Impfungen. Im Jahr 2020 waren es noch 76.332 Impfnebenwirkungen, und die Impfungen beliefen sich je nach Quelle auf 30 Millionen (KBV) bis 47 Millionen (Arzneimittel-Atlas). Die große Mehrzahl der Impfungen im Jahr 2021 stellen demnach die Corona-Impfungen dar. Wer nun die Zahl der Impfnebenwirkungen vor der Pandemie mit der Zahl der Impfungen ins Verhältnis setzt, erhält zwischen 0,25 (laut KBV) oder 0,16 Prozent (laut Arzneimittel-Atlas). Verglichen mit den Corona-Impfungen und den Nebenwirkungen steigt dieser Wert 2021 auf 1,67 Prozent. Würden noch weitere 50 Millionen andere Impfungen hinzukommen, läge der Wert mit 1,25 Prozent immer noch deutlich über dem Normal-Vorjahr. Die Corona-Impfung hat also die Zahl aller Nebenwirkungen pro Impfung in Deutschland mindestens vervierfacht, möglicherweise sogar verachtfacht.

Wie kann es sein, daß diese fast 2,5 Millionen Nebenwirkungen, die offenbar schwer genug waren, um die Betroffenen zum Arzt zu führen, nicht schwer genug waren, um die Ärzte dazu zu bewegen, sie gemäß der Meldepflicht an das PEI weiterzureichen? Schließlich gingen dort nur 290.000 Meldungen ein. Ein Grund ist die geringere Schwere der Leiden. Daß dies der einzige Grund ist, daran haben schon mehrfach Statistiker und Ärzte erhebliche Zweifel geäußert, dauere doch eine solche Meldung zwischen zehn und dreißig Minuten und bringe dem Arzt keine adäquate finanzielle Entschädigung. So erklärt sich auch eine weitere Aussage von Experte Mentzer vor dem Bundesverwaltungsgericht. 90 Prozent der Nebenwirkungsmeldungen zur Covid-Impfung, die beim PEI eingingen, kämen bisher von betroffenen Personen oder deren Angehörigen, nur zehn Prozent von Ärzten.

Von seiten der Gesetzlichen Krankenkassen (GKV) heißt es dagegen: Das Angebot der GKV, „ihre enormen Datenbestände“ zur Verfügung zu stellen, habe bisher niemand angenommen. Eine Anfrage der JF ließ das PEI bis Redaktionsschluß unbeantwortet. Sowohl PEI und RKI als auch GKV und KBV sind der Aufsicht des Bundesgesundheitsministeriums unter Karl Lauterbach unterstellt.

Foto: Covid-19-Impfspritze: Der Bund lagert fast 100 Millionen Corona-Impfdosen. Das Interesse der Bevölkerung am Impfen geht stark zurück, die Stoffe werden wohl ungenutzt verfallen. Beim Steuerzahler bleibt ein Milliardenschaden.