© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 29/22 / 15. Juli 2022

Überlebenskampf auf 64 Feldern
Ein Zug kann das Spiel entscheiden: Warum Schach ein so faszinierender Sport ist
Ulrich van Suntum

Kurz vor Beginn eines hochklassigen Schachturniers in Prag im Jahr 1943 war kurzfristig ein Spieler ausgefallen. Der Veranstalter Ctibor Kende grübelte verzweifelt, wie er das Problem lösen könnte. Da klopfte ein völlig durchnäßter Junge bei ihm an. Er war zu Fuß bei eisigem Wetter 20 Kilometer aus seinem Heimatdorf nach Prag gelaufen, nur um das Turnier zu sehen. Da er kein Geld hatte, bot er sich für jede Arbeit an, etwa Figuren auftellen oder Getränke anreichen. Einer plötzlichen Eingebung folgend lud Kende ihn zu vier Blitzpartien ein. Falls er gewinne, werde er ihn am nächsten Tag im Turnier mitspielen lassen und als großes Talent dort präsentieren. Der Junge gewann alle vier Partien. Es war niemand anderes als der spätere Schachgroßmeister, Publizist und Politiker Ludek Pachman.    

Diese Anekdote erzählt der tschechisch-deutsche Großmeister Vlastimil Hort in seinem Buch „Meine Schachgeschichten“. Sie beleuchtet wie kaum eine andere die Faszination, welche das scheinbar so trockene Spiel schon bei Kindern auslösen kann. Hort selbst wurde davon als Fünfjähriger während eines langen Krankenhausaufenthalts infiziert, wo ihm ein Arzt die ersten Züge beibrachte. Schach hat ihn nie mehr losgelassen. Noch heute, mit 78 Jahren, spielt er für einen Oberhausener Verein. Auch das ist eine Besonderheit des Schachs: Kinder können gegen Greise gewinnen ebenso wie umgekehrt, und Frauen haben im Prinzip die gleichen Chancen wie die Männer.  

Für Nicht-Schachspieler ist die Begeisterung für dieses Spiel dennoch kaum nachvollziehbar. Ein Zuschauermagnet ist es schon gar nicht. Wer will schon stundenlang zusehen, wie zwei hochkonzentrierte Menschen auf ein Holzbrett starren und gefühlt nur alle halbe Stunde eine Figur bewegen? Zwar kennen viele die Grundregeln des Spiels aus ihrer Kindheit. Aber was sich wirklich abspielt auf dem Brett, erschließt sich nur dem Eingeweihten. Selbst professionelle Kommentatoren können oft nur raten, welche Pläne und Gedanken die Kontrahenten gerade in ihrem Kopf bewegen. Erst im nachhinein erschließt sich manchmal, welcher geniale Plan oder fatale Fehler die Partie entschieden hat.

Ganz anders aber ist es für die Spieler selbst. Wenn der erste Zug getan ist, tauchen sie ein in eine völlig andere Welt. Wahre Dramen spielen sich darin ab. Die unscheinbaren Holzfiguren werden plötzlich zu Monstern, Helden oder Opfern, die in unbarmherzigem Kampf ums Überleben ihres Königs kämpfen. Mehr noch, die Spieler selbst verschmelzen förmlich mit dem Schicksal ihrer „Steine“, wie Schachspieler die Figuren nennen. Ein gegnerischer Angriff wird nahezu als eine Bedrohung des eigenen Lebens erlebt. Angst, Verzweiflung, Erleichterung oder Triumph liegen oft nahe beieinander. Die Gefühlsregungen zeigen, mit welcher Leidenschaft und Erbitterung der Kampf auf den 64 schwarz-weißen Feldern ausgetragen wird. Schon ein einziger Zug kann das Spiel vollkommen umdrehen. 

Dabei ist Schach eigentlich ein Gentleman-Sport. Es gelten strenge Regeln nicht nur für das Ziehen der Figuren, sondern auch für das Benehmen. Sprechen während einer Turnierpartie ist untersagt, abgesehen natürlich von Schach- oder Remisgeboten. Sowohl vor als auch nach der Partie gibt man sich artig die Hand, zumindest vor Corona. Jede Art von Häme oder Herabsetzung des Gegners ist verpönt. Aber wie es drinnen aussieht, geht niemanden was an, wie es in Franz Lehars Operette „Land des Lächelns“ so schön heißt. Viele Schachspieler grübeln nach einer verlorenen Partie die ganze Nacht verzweifelt darüber, wie es dazu kommen konnte. „Eigentlich stand ich ganz gut“ ist wohl der häufigste Satz nach einer Niederlage. 

Aber es gilt eben die alte Schachweisheit, wonach 40 gute Züge nach einem einzigen schlechten dann doch verlieren. Daraus resultiert eine Spannung und Dramatik, wie man sie sonst höchstens noch vom Tennis kennt. Nicht jeder ist dem mental gewachsen. Es gibt hervorragende Spieler, denen bei ernsthaften Ligapartien regelrecht die Hände zittern vor Sorge, einen falschen Zug zu machen. Gesteigert wird dies noch durch die unerbittliche Regel „berührt, geführt“. Demnach muß eine Figur gezogen werden, sobald der Spieler sie auch nur angefaßt hat, selbst wenn er im letzten Moment noch einen Fehler erkennt. Unzählige „eigentlich gewonnene“ Partien gingen so verloren. Darum sind Sorgfalt, Ruhe und Bedacht die wohl wichtigsten Charaktereigenschaften, welche ein guter Spieler mitbringen und immer wieder trainieren muß. 

Deswegen ist Schach auch mehr als ein bloßer Zeitvertreib. Es eignet sich hervorragend für pädagogische Zwecke und ist zum Beispiel in Rußland Pflichtfach in den Schulen. In Deutschland führt das „Spiel der Könige“ dagegen eher ein Schattendasein. Als bisher einziger Deutscher wurde Emanuel Lasker Schachweltmeister, und das war 1894. Der Deutsche Schachbund hat nur knapp 90.000 Mitglieder, mit abnehmender Tendenz. Ein kurzes Zwischenhoch brachte nur Corona, das viele andere Freizeitbeschäftigungen unmöglich machte, zusätzlich beflügelt durch die Netflix-Serie „Damengambit“. 

Für eine dauerhafte Aufwärtsentwicklung bräuchte es vor allem systematische Jugendarbeit. Denn wer wirklich gut Schach spielen will, muß im Kindesalter damit anfangen. Aber auch Späteinsteiger können durchaus noch beachtliche Fortschritte machen und viel Freude dabei gewinnen. Dafür muß man heute nicht einmal mehr Lehrbücher wälzen. Das Internet ist voll von kurzweiligen Filmchen, in denen die wichtigsten Eröffnungen und Taktiken erklärt werden. Viele Großmeister sind inzwischen in diesen Markt eingestiegen. Der erfolgreichste ist der US-Amerikaner Hikaru Nakamura. Im gerade beendeten Kandidatenturnier um die Herausforderung von Weltmeister Magnus Carlsen wurde er nur Dritter. Aber mit seiner Internet-Präsenz hat er es zum Millionär gebracht. 

Das Internet ist wohl auch die größte Chance, dem Schachspiel wieder mehr Popularität in Deutschland zu verschaffen. Auf kostenlosen Plattformen wie zum Beispiel Lichess oder der Schach-Arena trifft man Tausende Gegner in allen Spielstärken. Mit etwas Glück sogar den amtierenden Weltmeister, der sich dort unter dem Pseudonym DrNykterstein die Zeit vertreibt. 

Foto: Für das Ziehen der Schachfiguren gelten strenge Regeln: Angst, Verzweiflung, Erleichterung oder Triumph liegen oft nahe beieinander