© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 29/22 / 15. Juli 2022

Auf der Suche nach Identität
Erster Weltkrieg und Revolution: Der Schriftsteller Szczepan Twardoch erzählt in seinem Roman „Demut“ von einem Mann inmitten widerstreitender Mächte
Regina Bärthel

Am Anfang ist der Schlamm, überstrahlt von einem hellen Stern. Doch der Stern ist ein todbringendes Schrapnell, der Schlamm nicht die Leben verheißende Ursuppe, sondern der flandrische Morast des Ersten Weltkrieges, durchsetzt mit Blut und verwesenden Leichen. In seinem neuen Roman „Demut“ läßt der Schriftsteller Szczepan Twardoch seinen Protagonisten aus der Epoche des Ersten Weltkriegs und der Nachkriegszeit erzählen, in der alte Strukturen und Systeme, mithin auch Orientierungen und Gewißheiten im politischen wie sozialen Raum zerfallen. 

Der 1979 nahe dem schlesischen Gleiwitz geborene Twardoch gehört zu den bekanntesten polnischsprachigen Schriftstellern. Von Twardochs neun Romanen wurden fünf von Olaf Kühl ins Deutsche übersetzt, darunter „Drach“ (2016) und „Der Boxer“ (2020). Sie dringen tief in Fragen der schlesischen und polnischen Geschichte ein, doch sind es nicht nur historische Zusammenhänge, die der Autor darlegt: Twardoch interessiert auch die Frage, wie seine Protagonisten sich in Zeiten des Umbruchs verhalten, wie sie sich innerhalb der Ereignisse verorten. Angesichts des aktuellen Konfliktes bezog Twardoch im April vehement Stellung für die Ukraine: In einem Essay in der Welt beschrieb er die brutalen Erfahrungen seiner Familie mit Rußland; in der Neuen Zürcher Zeitung (NZZ) kritisierte er die Arroganz westlicher Intellektueller, die Osteuropa als ein absurdes Gebiet fragwürdig verwaschener Identität sähen; ein von den Großmächten leicht zu manipulierendes Objekt, nicht fähig, sein eigenes Schicksal zu bestimmen. 

Begegnungen mit Rosa Luxemburg und Karl Liebknecht

Identität inmitten widerstreitender Mächte behandelt Twardoch auch in seinem jüngsten Roman „Demut“: Alois Pokora (zu deutsch: Demut), geboren 1891, wächst als Sohn einer mittellosen Bergarbeiterfamilie in Oberschlesien auf. Auf Betreiben der Mutter und des örtlichen Pfarrers wird er auf ein katholisches Gymnasium im nahen Gleiwitz geschickt, in ein besseres Leben. Doch Alois, seiner Familie und Herkunft entfremdet, strandet in einem Niemandsland zwischen schlesischer und deutscher Sprache, ist weder Deutscher noch Pole, fühlt sich sozial und politisch heimatlos.

Auf der Suche nach einem Lebenssinn, nach einer Identität bandelt Pokora mit zahlreichen Ideologien an, an denen es zu dieser Zeit nicht mangelt: Während des Studiums flirtet er mit der Idee einer polnischen Nation, befehligt dann aber freiwillig als preußischer Offizier des Ersten Weltkriegs einen Pioniertrupp in Flandern. Schwer verwundet landet er in Berlin; inzwischen hat der Kaiser abgedankt, der Krieg ist beendet.

Eher zufällig findet Pokora Anschluß an die Berliner Halbwelt, landet bei der Roten Volksgarde und begegnet Rosa Luxemburg und Karl Liebknecht. Läge in der Revolution der unterdrückten Massen, die die Vordenker so wortgewaltig darstellen, nicht die ideale Heimat für den Bergarbeitersohn? Doch gerade ihnen gegenüber entbrennt sein Haß: „Ich bin ein Nichts und brauche nichts, weder Staat noch Revolution noch Ordnung. Ich bin reine Anomie. Das Chaos.“ Er sei ein Werkzeug, einsetzbar für jede beliebige Sache, „Hauptsache, man gibt ihm einen Sinn, einen Handlungsgrund.“ Solcherart individualistische Sichtweise wird in einer sozialistischen Republik selbstredend nicht goutiert, Pokoras militärische Kenntnisse hingegen schon. Und so geht der wilde Reigen weiter: Als Teilnehmer der Weihnachtskämpfe wird er in letzter Sekunde vor der Exekution durch ein Freikorps gerettet und zurück nach Oberschlesien gebracht. Diesmal macht sich Pokora nicht sofort zum Werkzeug einer neuen, nun deutschnationalen Ideologie, sondern baut sich ein kleinbürgerliches Leben mit Festanstellung und Familie auf – fern von jeglicher Politik, jedoch nicht fern von eigenen Obsessionen. 

Das alles berichtet Alois Pokora seiner unerreichbaren Geliebten Agnes. Aus einem wohlhabenden deutschen Elternhaus stammend, ist sie sein Ideal, sein Leitstern: „Ich will deiner würdig sein, Agnes. Mein Leben wird Sinn bekommen, meine Klasse, meine Herkunft, meine gesellschaftliche Position werden mich nicht mehr bestimmen, ich werde es sein, der die Wirklichkeit um mich herum definiert.“

Doch ebenso wie sich der Stern über dem Kriegsschauplatz als Schrapnell entpuppt, ist auch Agnes nicht die „Reine, Geheiligte“, wie ihr Name verspricht. Vielmehr quält sie den unterwürfigen Alois mit ihrem für ihn unerreichbaren Körper, befriedigt aber zugleich dessen Verlangen nach (Selbst-)Erniedrigung. In seiner Demütigung genießt sie aber auch eine Macht, die sie sich im Leben nicht zu nehmen wagt – und steht als Metapher für die Diskrepanz zwischen Ideal und Realität. Es sind diese Fehleinschätzungen, gepaart mit einer fehlenden Identität, die Alois Pokora immer wieder zum Spielball antagonistischer Mächte werden läßt, ihn zu widerstreitenden Handlungen und Solidaritäten verleitet.

Immer wieder gleitet der Erzähler Alois Pokora dabei in ein wahres Lamento ab, in dem er sich selbst seziert. Man möchte ihm zurufen: Ermanne dich! Doch mit Pokora hat Twardoch einen (fast) klassischen Antihelden geschaffen: Ein Subjekt der Moderne, dessen säkularisierte Welt auch auf gesellschaftlicher Ebene von Ambivalenzen und Antithesen bestimmt wird. Passivität, Zerstörungswut und Resignation begleiten ihn bei seiner Suche nach einer Sinnhaftigkeit im orientierungslosen Raum. Pokora ist kein gesellschaftskritischer Nonkonformist, zu dem Antihelden gern stilisiert werden. Vielmehr ringt er um einen Lebenssinn und Würde, um Anerkennung seines ureigenen Wesens – und kann sie sich doch selbst nicht zugestehen. 

In „Demut“ wechselt Szczepan Twardoch mühelos von einer expressiven, ja pathetischen Sprache zu kühlen psychologischen Analysen, von temporeichen, gewaltvollen Kampfhandlungen zu romantischer Melancholie. Es ist ein postmoderner Roman, angefüllt mit historischen Kulissen und kulturellen Zitaten, aber auch mit zahlreichen Narrativen und widerstreitenden Wahrheiten, in die sich die Welt aufgesplittert findet. Unter der opulenten Oberfläche des Romans läßt sich durchaus ein Bergwerk an Fragen und Ansätzen freilegen, die aufschlußreich für unsere aktuelle Gesellschaft sind.

Szczepan Twardoch: Demut. Übersetzt von Olaf Kühl. Rowohlt Berlin 2022, gebunden, 464 Seiten, 24 Euro