© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 29/22 / 15. Juli 2022

CD-Kritik: Othmar Schoeck, Christian Gerhaher
Gemütszuständliches
Jens Knorr

Zu den eigentümlichsten Erscheinungen nachromantischer Musik zählt der Schweizer Komponist Othmar Schoeck (1886–1957). Sein erster Liederzyklus mit Instrumentalbegleitung auf Gedichte von Eichendorff und Lenau, die Elegie op. 36, ist ein Dokument vorsorglichen Abschieds. Zu Beginn der 20er Jahre komponiert, zelebriert der Zyklus Liebesschmerz, noch bevor die Genfer Pianistin Mary de Senger ihre Beziehung zu Schoeck beendet hatte. Und er zelebriert Phantomschmerz nach der musikalischen Romantik, noch bevor sich sein Komponist der Avantgarde überhaupt konfrontiert sah.

Die 24 Lieder haben Bariton Christian Gerhaher und die 15 Instrumentalisten des Kammerorchesters Basel unter Heinz Holliger im Schweizer Landgasthof Riehen aufgenommen. Ganz auf Linie Schoecks liegen die Interpreten mit ihrer schweizerischen Auffassung von einer Ökonomie musikalischer Mittel, romantischste Wirkungen am effektivsten und effizientesten herzustellen. Sich bis hin zur Selbstverleugnung zurücknehmend, läßt sich Gerhaher weit mehr von Stimmungen tragen, als daß er sie beim Hörer noch auszulösen trachtet.

„Ein lyrisches Ich erhebt seine Stimme und schreitet von einem Gemütszustand zum nächsten“, schreibt Musikwissenschaftler Beat Föllmi im Beiheft zur Edition. Aber sind es nicht eigentlich Varianten immer desselben Gemütszustands, zu welchen Gerhaher seine überreife Stimme öfter senkt und seltener erhebt und das lyrische Ich an der Schwelle zur Moderne in tiefster Melancholie auf der Stelle tritt?!

Othmar Schoeck Elegie Sony Classical 2022

 www.kammerorchesterbasel.ch

 https://sonyclassical.com