© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 29/22 / 15. Juli 2022

Dorn im Auge
Christian Dorn

Kein „Passagen-Werk“, vielmehr rätselhafte Passanten auf dem Gehweg im Umfeld der Gethsemanekirche. Mir entgegenkommend zwei Paare. Einer der beiden Frauen entfährt: „Wieso ein Arsch? Dein Vater ist doch gar kein Arzt.“ Minuten später, auf der anderen Straßenseite, laufe ich wieder an den beiden Paaren vorbei. Diesmal doziert der Mann zu den übrigen drei: „Egal, wie du dich anstrengst, du kriegst es nicht anders hin, als daß das abartig aussieht.“ Am Montag darauf ebenfalls abseitige Darbietungen, diesmal unter der segnenden rechten Hand der Christus-Figur vor dem Hauptportal der Gethsemanekirche: Dort wird allwöchentlich eine Neuauflage des Konflikts von der Judäischen Volksfront und der Volksfront von Judäa geboten, sind es doch letztlich beides eher linke Milieus, die sich hier gegenüberstehen: Die einen verkörpert von einem irren Redner der Freien Linken (zusammen mit anderen Kritikern des Corona-Maßnahmestaates), auf der anderen Seite die seltsam harmlos erscheinende Antifa, die selbst die Inhaberin des Schuhgeschäfts den Kopf schütteln läßt: „Das ist ja gar keine normale Antifa, die gehen ja alle arbeiten.“ Sie sei früher selbst in der Antifa gewesen, „das war alles noch anders“, kommentiert sie kopfschüttelnd.

„Du bekommst eine Anzeige!“ Tatsächlich bekam ich nur ein Autogramm unter meine Kolumne.

Auf Höhe der angewinkelten segnenden Christus-Hand muß auch das Filmschaffen von Klaus Lemke gewesen sein, der Ende voriger Woche mit 81 Jahren verstorben ist. Der sich verbreiternde Hades auf meinem „Phonophor“ zeigt mir seine letzte Nachricht vom 6. Februar 2021: „check mal ganzer Film EIN KOMISCHER HEILIGER auf cinegeek.de“. Ein Freund aus Hamburg, der Lemkes frühes Filmschaffen noch aus München kennt, unterstreicht mir gegenüber, Lemke habe „immer nur aus der Hüfte geschossen“, seine Filme seien eigentlich sämtlichst Komödien oder vielmehr Comedy gewesen. Die ausgerechnet zwei Tage vor Lemkes Tod im Bayerischen Rundfunk ausgestrahlte 60minütige Dokumentation „Champagner für die Augen – Gift für den Rest“ (abrufbar bis 31. Dezember 2022 in der BR-Mediathek) bietet noch einmal ein Wiedersehen mit Lemke und dem von ihm eingefangenen authentischen Lebensgefühl vor allem der 1970er Jahre in Filmszenen mit Rolf Zacher, Cleo Kretschmer, Wolfgang Fierek oder „Sylvie“. Jenseits des bis heute allgegenwärtigen „Staatskinos“, das Lemke in deutlichen Worten kritisiert hatte – so auch im JF-Interview 2012 („Wir haben nicht mal eine eigene Sprache“) – ist auch der letzte Film Lemkes „Ein Callgirl für Geister“ von 2020 (WDR-Mediathek bis 9. August 2022). Was tun gegen die Trauer? Als erstes ein persönliches Memory-Spiel: Als wir uns zuletzt in München sprachen, hatte mir Lemke Mut gemacht, es einfach „rauszuhauen“, nicht nachzudenken – und in der Tat war die nächste Kolumne von mir ein solcher Treffer, daß die feministische Autorin und Bloggerin Teresa Bücker im „Stammcafé des Westsektors“, wo die JF versehentlich auslag, unter meine mit sexuellen Assoziationen spielende Kolumne mit Kugelschreiber kritzelte: „Du bekommst eine Anzeige! Willkommen im Jahr 2019.“ Tatsächlich bekam ich nur ihr Autogramm unter meinem gedruckten Text.