© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 29/22 / 15. Juli 2022

Vor Gott und meinem Gewissen
Sachsen: Das Kloster Marienthal in der Oberlausitz will Handschriften versteigern und bricht dafür Verträge
Paul Leonhard

Von den Weinbergen aus gesehen bietet sich ein idyllischer Anblick auf den Gebäudekomplex des Klosters St. Marienthal. Eine mächtige Anlage, seit fast tausend Jahren existierend, barock überformt, aus Konventsgebäude mit Abtei, Klosterkirche, Propstei, Kreuzkapelle und Nebengebäuden wie Bäckerei und Sägewerk bestehend. Bei der neuen Grenzziehung vor 77 Jahren hatten die Zisterzienserinnen das Glück, sich auf der richtigen Seite der Lausitzer Neiße zu befinden, auch wenn es einen Teil seines Grundbesitzes verlor. Der Sozialismus hatte wie das Regime vor ihm seinen Burgfrieden mit den Katholiken geschlossen und setzte auch im Fall der Nonnen auf eine biologische Lösung. Jetzt ist diese – nur noch acht Nonnen leben in dem großen Komplex – fast erreicht, und gerade deswegen hängt aktuell der Haussegen zwischen dem Freistaat Sachsen und der Klosterleitung schief.

Das nahe der sächsischen Kleinstadt Ostritz gelegene Marienthal soll 1234 von Kunigunde, der Tochter Philipps von Schwaben und der Gemahlin von König Wenzel von Böhmen, gegründet worden sein. Trotz Zerstörungen durch Kriege und Brände prosperierte das Kloster. Die Abtei erwarb umfangreichen Grundbesitz, erhielt zahlreiche Zustiftungen. Ernsthaft gefährdet war es nur durch die Reformation. Nicht nur wurden zahlreiche Klosterdörfer evangelisch, auch mehrere Äbtissinnen liebäugelten mit dem neuen Glauben. Letztlich verhinderte im 16. und 17. Jahrhundert nur die Absetzung von drei Äbtissinnen die Umwandlung des Klosters in ein weltliches Damenstift.

Wertvolle mittelalterliche Bücher zur Versteigerung angeboten

Heute ist es neben dem Kloster Marienstern bei Kamenz das einzige noch existierende Kloster in Sachsen, und es ist das älteste Frauenkloster der Zisterzienser in Deutschland, das seit seiner Gründung ununterbrochen besteht. Eine Tradition, die bedroht ist, weil sich keine Frauen mehr finden, die sich der Gemeinschaft anschließen wollen.

Daß das Kloster sich in einer wirtschaftlichen Notlage befindet, wurde spätestens 2010 auch der Öffentlichkeit bekannt, als der Konvent mit Zustimmung des Bistums Dresden-Meißen und Roms seine forst- und landwirtschaftlichen Flächen für angeblich rund elf Millionen Euro verkaufte. Die rund 800 Hektar gehörten zur Grundausstattung des Klosters und sollten seine Existenz sichern. Kurz nach dem Verkauf überschwemmte das Neiße-Hochwasser das Kloster und hinterließ einen auf 20 Millionen Euro geschätzten Schaden. Kaum war dieser behoben – knapp 14 Millionen Euro übernahm der Freistaat –, brach die Pandemie aus und ließ die touristischen Einnahmen des Klosters auf Null sinken. Nach Angaben des Klosters sah man sich gezwungen, zur Kostendeckung und Abgeltung von Krediten die Altersrücklagen der Schwestern in Anspruch zu nehmen.

Der Klosterwald verkauft, kaum Einnahmen aus Beherbergung, Gastronomie und Klosterladen, die Altersrücklagen angegriffen: Um weiterhin existieren zu können und die jährlich 500.000 Euro für den Erhalt der Anlage aufbringen zu können, wollen sich die Schwestern jetzt von einem weiteren Teil ihrer irdischen Schätze trennen. „Ich muß vor Gott und meinem Gewissen verantworten, was wir hier tun, und ich muß mich fragen, was wichtiger ist: die Zukunft unseres Konvents zu retten oder all unsere materiellen Werte zu erhalten“, faßt Äbtissin Schwester Maria Elisabeth Vaterodt das Problem zusammen: „Beides zusammen geht nicht mehr.“

Im konkreten Fall handelt es sich um mittelalterliche Handschriften aus der 10.000 Bände, darunter etwa 4.000 historischer Altbestand, umfassenden Klosterbibliothek. Pikant daran ist, daß die zum Verkauf stehenden zu jenen elf Handschriften und drei Fragmenten zählen, die gerade auf Kosten des Steuerzahlers im Leipziger Handschriftenzentrum aufwendig digitalisiert und wissenschaftlich erschlossen wurden. Zudem laufen, wie jetzt bekannt wurde, längst Verkaufsgespräche mit der Staatsregierung.

Doch offenbar sind die Schwestern zweigleisig gefahren und haben neben dem verloren geglaubten bedeutsamen Kapiteloffiziumsbuch des Klosters Altzelle aus dem 12. Jahrhundert einen reich illustrierten Marienthaler Psalter vom Beginn des 13. Jahrhunderts einem Schweizer Kunsthändler zur Versteigerung angeboten – also die beiden wertvollsten Stücke der Bibliothek, wobei allein der Marienthaler Psalter bis zu vier Millionen Euro einspielen sollte. Damit sind die Schwestern gegenüber der Deutschen Forschungsgemeinschaft, die die wissenschaftliche Erschließung der Handschriften finanziert hat, vertragsbrüchig geworden. Gegenüber dieser hatte sich das Kloster schriftlich verpflichtet, seinen Kunstbestand dauerhaft zu bewahren.

Die Empörung in Sachsen ist groß. Von einer „Katastrophe für das kulturelle Erbe des Freistaates“ spricht der Historiker Andreas Rutz, Inhaber des Lehrstuhles für sächsische Landesgeschichte an der TU Dresden. Der Marienthaler Psalter gilt als das prächtigste Stück der Klosterbibliothek. Die 150 vollständigen biblischen Psalmen, sind reich koloriert und malerisch ausgeschmückt. Dabei handele es sich um Darstellungen der Tierkreiszeichen, biblische Bilder und auf den ersten Blick rätselhafte ornamentale Motive, schwärmt Peter Knüvener, Direktor der Zittauer Museen: „Sie sind angesichts ihres großen Alters von sehr guter Erhaltung und beeindruckender Leuchtkraft.“ Das Buch gehöre zur kleinen Gruppe der gut erhaltenen romanischen Bilderhandschriften, „ein Kulturerbe von internationaler Bedeutung“. Ähnlich sieht es Barbara Wiermann von der Sächsischen Landes- und Universitätsbibliothek (Slub): „Das ist wirklich mittelalterliche Buchmalerei, mittelalterliche Darstellung vom Feinsten. Solche Stücke haben wir sonst in Sachsen nicht.“

Historiker wollen die Kulturgüter unter Denkmalschutz stellen

Trotzdem gelten die Preisvorstellungen der Nonnen als übertrieben. „Auch angesichts des unbestrittenen kunst- und kulturgeschichtlichen Wertes der Handschrift erscheint mir die Summe zu hoch, um nicht zu sagen absurd hoch“, zitiert die Sächsische Zeitung Marius Winzeler, Direktor des Grünen Gewölbes in Dresden und früher Leiter der Städtischen Museen Zittau. Als ehemaliger Mitarbeiter der ersten sächsischen Landesausstellung, die seinerzeit im Kloster Marienstern bei Kamenz stattfand, kennt er sich mit der Materie bestens aus.

Sachsen hat 1,2 Millionen Euro geboten, was der Summe entspricht, die eines „der namhaftesten internationalen Kunstauktionshäuser“ nannte, daß vom Kloster 2021 mit der Schätzung der Bestände an Handschriften und frühen Drucken beauftragt worden war.

Inzwischen rudert die Äbtissin zurück: Dem Konvent sei es darum gegangen, „den Wert der Bücher für einen potentiellen Verkauf zu ermitteln“. Offenbar ist das Mißtrauen groß, vom Freistaat über den Tisch gezogen zu werden, denn „wir gewannen den Eindruck, daß nicht immer im abgesprochenen Sinn gehandelt worden ist“, so die Äbtissin in einer Pressemitteilung. Auch wenn die Schwestern Fehler einräumen, „für die wir die Verantwortung übernehmen“, ist viel Vertrauen zerbrochen. Winzeler, auch Mitglied im Freundeskreis der Marienthaler Abtei, sieht „diese Art von Verkauf als geistige Bankrotterklärung, als wissentliche Zerstörung langjährigen Vertrauens und als Angriff auf die historische Identität des Klosters selbst, aber auch als nicht zu rechtfertigende Preisgabe kultureller Verantwortung“. Mehrere Historiker fordern den Freistaat auf, die Handschriften aus der Klosterbibliothek umgehend in das Verzeichnis national wertvollen Kulturgutes einzutragen und überhaupt „den gesamten Bibliotheks-Altbestand und weitere bewegliche Kulturgüter in der Abtei St. Marienthal unter Denkmalschutz zu stellen“, so der Historiker und Archivar Klaus Graf.

„Wenn dieses Zeugnis jahrhundertealter Frömmigkeit durch Verkauf aus seinem gewachsenen Zusammenhang gerissen würde und für die Öffentlichkeit künftig nicht mehr zugänglich wäre, so wäre dies ein schwerer Rückschlag beim Kampf um den Erhalt des kulturellen Erbes für künftige Generationen, und zwar beileibe nicht nur in Sachsen, sondern weit darüber hinaus“, findet auch Landeshistoriker Joachim Schneider. Allerdings war die im Konvent untergebrachte Klosterbibliothek auch bisher der Öffentlichkeit physisch nicht zugänglich, inhaltlich aber schon. Denn der Marienthaler Psalter wurde ab 2016 im Rahmen eines Forschungsprojektes digitalisiert und ausführlich erforscht. „Das Buch ist kulturgeschichtlich und landeshistorisch von unschätzbarem Wert“, sagt Christoph Mackert, der Leiter des Handschriftenzentrums der Universitätsbibliothek Leipzig. Gegenüber dem Internetportal katholisch.de unterstreicht er die Bedeutung der Klosterbibliothek als Gesamtkunstwerk: „Die Handschriften der Abtei Marienthal sind nicht nur als einzelne Textträger äußerst wertvoll, sie bilden darüber hinaus ein herausragendes Kunstensemble, das uns äußerst seltene Einblicke in die Geistesgeschichte Sachsens ermöglicht.“ Würden einzelne Bücher aus der Sammlung entfernt werden, wären diese Forschungsmöglichkeiten für immer verloren.

Da der geplante Verkauf offenbar vom Heiligen Stuhl abgesegnet ist, wünscht sich Mackert eine Erweiterung des Kulturgutschutzgesetzes: „Die Kirchen und Klöster sind die Hauptgedächtnisträger für den Bereich des Mittelalters. Wenn sie aus finanziellen Gründen nicht mehr in der Lage sind, dieser Verantwortung gerecht zu werden, sollte eine staatliche Taskforce in Zusammenarbeit mit den kirchlichen Stellen die Möglichkeit erhalten, gefährdete Kulturgüter in die öffentliche Hand zu überführen.“