© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 29/22 / 15. Juli 2022

Anschwellendes Unwohlsein
Mit Hilfe großer Denker spiegelt Konrad Adam den politischen Wandel in Deutschland
Erik Lommatzsch

Konrad Adam kommt gern auf Klassisches zurück. Da wäre der feinsinnig-spöttische Johann Nestroy, der in einer seiner Possen bemerkte: „Wir haben eine Menge Freiheiten gehabt – aber von Freiheit keine Spur.“ Oder er erzählt von Periander, der als Alleinherrscher in antiken Korinth Geschmack an seiner Stellung gefunden hatte. Seinen Kollegen Pittakos, den Tyrannen von Lesbos, habe Periander daher um Rat gefragt, wie diese zu festigen sei. Pittakos habe seine Antwort in Form einer Demonstration gegeben. Mit einer Sichel sei er durch ein Feld gegangen und habe jede Ähre, die herausragte, abgeschlagen. In Worte wiederum habe später Aristoteles das Ganze gefaßt. Mit lauter Gleichen könne man zwar eine Tyrannis, aber keinen Staat – im Sinne einer griechischen polis – bilden. 

Bezeichnenderweise gehöre zu den „wenigen, durchweg anspruchslosen Wortschöpfungen“, die auf Angela Merkel zurückgehen, „die Rede von der Wir-Gesellschaft“. Diesem „Wir“, das aus „allen gesellschaftlich relevant genannten Gruppen“ bestehe, welche „die Öffentlichkeit, den großen Konsens“ vertreten, habe sich der Rest zu beugen. Freiheitsverlust, Einebnungen, das An-den-Rand-Drängen des Anderen, welches nicht mehr als das Andere, sondern schlicht als das Falsche und folglich zu Bekämpfende angesehen wird – all dem geht Adam in seiner Bestandsaufnahme „Gräben“ nach. Der ehemalige FAZ- und Welt-Journalist hat dem Buchmarkt damit einen weiteren Band hinzugefügt, der sich in eine erkennbare, aber bisher noch nicht einheitlich kategorisierte, relativ neue Rubrik einordnen läßt. Allgemeiner Unwohlseinsessay trifft es ganz gut – ein mit wachsender, konkreter Sorge und Warnungen verbundenes Unbehagen über die politischen und gesellschaftlichen Entwicklungen in Deutschland wird darin ausgebreitet. Über Entwicklungen, die auf eine umfassende, vielfach irreversible Umgestaltung des Staates hinauslaufen, deren Anfänge weiter zurückliegen, die sich allerdings in den letzten Jahren rasant beschleunigt haben. Tenor und Linien dieser Bücher sind ähnlich, sie unterscheiden sich lediglich in Ansatz- und Schwerpunkten.

Freiheitsgefährdendes Bündnis aus Regierungs- und Meinungsmacht

Adam beklagt den modernen Ständestaat, zu dem sich die Demokratie unter Merkel weiter gewandelt habe. Ebenso die Rolle, die Privilegien und das Selbstverständnis der Parteien, auch daran erkennbar, daß der Parteivorsitz der Schlüssel zur Macht sei, das Staatsamt nur nachgeordnet, eine Lektion, die Merkel von Kohl gelernt habe. Oder daß die Deutschen stolz darauf seien, dem Stolz für alle Zeit entsagt zu haben, statt für die eigene Kultur zu werben. Hart ins Gericht geht Adam mit der Stigmatisierung der im Osten der Bundesrepublik gelegenen Länder, insbesondere Sachsens, als rechtsextremes Terrain. Von Medien und Politik wurde dieses Bild – erfolgreich – geformt. Hemmungslos bediente man sich dabei auch völlig frei erfundener Taten. Die Mutter eines Sechsjährigen, der 1997 in einem Sebnitzer Schwimmbad ertrank, weil sie ihre Aufsichtspflicht vernachlässigt hatte, erfand „Nazis“, die für den Tod des Kindes verantwortlich gewesen seien. Eine Schülerin aus Mittweida schnitt sich selbst ein Hakenkreuz ins Fleisch und beschuldigte ebenfalls „Nazis“. 2018 kam es in Chemnitz – nach einem Mord, der allerdings wenig im Fokus stand – angeblich zu Hetzjagden auf Ausländer. Der Bundespräsident rief umgehend zum Besuch eines Konzertes auf, um „Haltung“ gegen rechte Beteiligte der imaginären Verfolgungen zu zeigen, über 60.000 Besucher kamen. Bands traten auf, die ihrerseits reichlich gewaltaffine Texte im Repertoire haben, allerdings für die richtige Seite singen.

John Stuart Mill hielt das Bündnis aus Regierungsmacht und Meinungsmacht für den gefährlichsten Feind der Freiheit. Thukydides, der Historiograph des Peloponnesischen Krieges, führte in seinem Werk aus, wer die freie Rede bekämpfe sei kein Demokrat, weil er den Wechsel verhindern wolle. Adam verwahrt sich gegen diejenigen, die ihre Legitimation allein in der Mehrheit suchen, vor allem, nachdem sie mit dem Anspruch aufgetreten sind, der Mehrheit zunächst das eigene Wollen nahezubringen. Und er verweist darauf, daß für die griechischen Philosophen der Gegensatz zur Wahrheit nicht die Lüge, sondern die bloße Meinung gewesen sei.

„Am liebsten spricht die Wissenschaft genauso wie die Kirche im Singular.“ Wissenschaft trete zunehmend mit Wahrheitsanspruch auf, die Politik ihrerseits fördere dies und bediene sich der „Erkenntnisse“, um Regierungshandeln als unhinterfragbar darzustellen. Die Kirche habe ihren Auftrag, Gegenmacht zur Staatsmacht zu sein, aufgegeben, die Zwei-Schwerter-Lehre sei eine Idee längst vergangener Zeiten. Feind der Kirche sei heute, wer „kulturelle Differenzen ganz natürlich findet, wer sie erhalten oder auch noch pflegen will“. Im argen liege die Gesellschaft auch in soziologicher Hinsicht – sie zerfalle „in die wirtschaftlichen Zuviel- und in die Nichts-Besitzer“. An dieser Stelle ruft Adam nach Regeln – absolut ist sein Freiheitsbegriff also nicht.

Das Ideal der Chancengleichheit zur Ergebnisgleichheit verschoben

Vieles für jeden kritischen Beobachter offensichtlich Problematische kommt zur Sprache, auch die Verschiebung vom Ideal der Chancengleichheit zur Ergebnisgleichheit. Lösungsvorschläge für die verfahrene Lage hält Adam allerdings kaum bereit; über Direktwahl oder die Idee, die Zahl vergebener Mandate auch von der Wahlbeteiligung abhängig zu machen, kommt er nicht hinaus. Auf eine – potentiell positiv – gestaltende Rolle der AfD setzt er nicht, was wenig überrascht. Das einstige Gründungsmitglied Adam hat die blaue Partei Wirkung zum 1. Januar 2021 frustriert verlassen. So bleibt ihm nur der seltsam anmutende Schlußappell, man solle dieses Mal auf Kassandra hören – allerdings scheint heute das, was die einen als großes Verhängnis ansehen, von den anderen – laut Wahlergebnis von den allermeisten – ausdrücklich gewollt zu sein.

Konrad Adam: Gräben. Was zur Einheit fehlt. Edition Buchhaus Loschwitz, Dresden 2022, broschiert, 150 Seiten, 17 Euro

Foto: Thukydides-Statue: Wer die freie Rede bekämpft, ist kein Demokrat, weil er den Wechsel verhindern will