© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 29/22 / 15. Juli 2022

Erste Schritte ins Gen-Jahrhundert
Vor 200 Jahren wurde Gregor Mendel geboren
Dieter Menke

Die Legende von Gregor Mendel, wie sie früher jedes Kind im Biologie-Unterricht kennenlernte, lautet so: Einsamer Augustiner-Mönch führt als Autodidakt Experimente mit Erbsenpflanzen durch und enthüllt dabei die Geheimnisse der Vererbung. Die Ergebnisse seiner Klostergarten-Versuche trägt er 1865 im Naturforschenden Verein Brünn vor, veröffentlicht sie in der Vereinszeitschrift und verschickt an Botaniker in ganz Europa Sonderdrucke der fünfzigseitigen Abhandlung, stößt aber als krasser Außenseiter der Wissenschaftsgemeinschaft auf keinerlei Resonanz. Verbittert stirbt das verkannte Genie im Januar 1884 im Alter von 61 Jahren.

In der Darstellung von Leben und Werk, so wie sie jetzt Ernst Peter Fischer, der Doyen des deutschen Wissenschaftsjournalismus, zu Mendels 200. Geburtstag am 20. Juli gibt (Naturwissenschaftliche Rundschau, 4/22), bleibt von dieser kitschigen Legende allenfalls ein Rest vom Nimbus des auf eigene Faust forschenden Hinterwäldlers bestehen. Tatsächlich entstammt Johann Mendel, der später den Klosternamen Gregor wählte, zwar dem winzigen Weiler Heinzendorf bei der schlesischen Stadt Odrau, wo sein Vater die Familie als Kleinbauer durchbringt. Dort wächst der Knabe in kargen, aber eben nicht bildungsfernen Verhältnissen auf. Der soziale Aufstieg des Bauernsohnes gelingt auch dank kirchlicher Förderung.

Mehr moderner Wissenschaftler als altertümlicher Mönch

1834 wechselt er von der Dorfschule aufs Gymnasium im schlesisch-mährischen Troppau, 1841 bezieht er die von Jesuiten gegründete Universität Olmütz, 1843 nimmt ihn das Augustinerstift St. Thomas in Altbrünn auf. Bereits in Olmütz zeichnet sich jedoch schon ab, daß es ihn nicht allein aus Glaubensgründen unters Dach der römisch-katholischen Kirche zog. Wie die meisten Novizen aus seinem Milieu lockte ihn die relative materielle Sicherheit. Doch er begnügt sich nicht mit dem Studium der Theologie und Philosophie, sondern nutzte das Vorlesungsangebot, um sich naturwissenschaftlich weiterzubilden. Im Augustinerstift setzt er diese Studien nahtlos fort, denn die Einrichtung galt damals nicht nur als geistliches, sondern auch als wissenschaftliches Institut.

Der Brünner Abt habe Talente wie Mendel angespornt, sich als Forscher zu betätigen und sich „aufs höchste über jede wissenschaftliche Leistung seiner Ordensbrüder gefreut“. Das Stift bietet daher auch Kollegs über Landwirtschaftslehre, Obst- und Weinbau an, die Mendel fleißig besucht. Als „außerordentlicher Studierender“, finanziert vom Orden, vervollkommnet er sein Wissen zwischen 1851 und 1853 an der Wiener Universität, wo er Pflanzenkunde, Physik und Mathematik hört.

Als er 1854 mit seinen ihm posthumen Weltruhm bescherenden botanischen Studien im Klostergarten beginnt, ist Mendel also kein Autodidakt. Er ist nebenbei an einer Brünner Realschule als Hilfslehrer für Physik und Naturgeschichte tätig. Mendel besuchte mehrfach internationale Kongresse und registrierte aufmerksam den Fortgang der Naturforschung. In Brünn zählte er zu den frühen Lesern von Charles Darwins „Über den Ursprung der Arten“ (1859). Er sei stets viel mehr ein Wissenschaftler denn ein Mönch gewesen, und er habe darum bei seinen Pflanzen in erster Linie die Natur und nicht Gott am Werk gesehen, stellt Fischer klar.

Als Mendel seine Experimente startete, suchte er nicht nach den „Vererbungsgesetzen“. Bei seinen Versuchen mit Pflanzenhybriden, die sich über acht Jahre hinzogen, ging es primär um die Lösung praktischer züchterischer Probleme, die sich bei der geschlechtlichen Fortpflanzung von Hybriden – Bastarde oder Mischlinge genannt – ergeben hatten. Einige Züchter wollten die Fruchtbarkeit und Beständigkeit von deren erworbenen Eigenschaften erkunden, während andere bei ihren Kreuzungen geschäftstüchtigen Sinns nach neuen Sorten Ausschau hielten, die sich besser als die alten vermarkten ließen – also genau wie heute.

Unsichtbare „Gebilde“ mit exakt berechenbaren Wechselwirkungen

1849 legte der schwäbische Arzt und Botaniker Karl Friedrich von Gärtner (1772–1850) das Standardwerk für diese Züchterkreise vor: „Versuche und Beobachtungen über die Bastarderzeugung im Pflanzenreich“. Darin konnte Mendel über 10.000 Einzelversuche lesen, die an mehr als 700 Pflanzenarten vorgenommen worden waren. Er zog daraus den Schluß, daß sein Forschungserfolg von der Begrenzung abhängen würde. Er wählte daher nur die Erbse (Pisum sativum) und verfolgte bei seinen Kreuzungen sieben Merkmale: Form und Keimblatt des Samens, die Farbe der Blüte, Form und Farbe der Schote sowie Ort und Größe des Stengels. Nur aufgrund dieser methodischen Konzentration schien ihm das Ziel erreichbar, „ein allgemein gültiges Gesetz für Bildung und Entwicklung der Hybriden aufzustellen“.

Wohlgemerkt: Gesetze für die Bildung kontrolliert gezogener hybrider Gartenpflanzen, nicht allgemeine Vererbungsgesetze. Aber das reichte, um von den Zeitgenossen als Pionier gewürdigt zu werden, als erster Botaniker, der bei der Kreuzung von Pflanzenarten und Pflanzenrassen statistisch-mathematisch formulierbare Regelmäßigkeiten bemerkte. Diese gelten seit jener fast ohne Widerhall gebliebenen schmalen Schrift „Versuche über Pflanzenhybriden“ als „Mendels drei Gesetze der Vererbung“ oder korrekter als „Mendelsche Regeln“: Die erste Regel beschreibt die Nachkommen (F1) reinerbiger Vorfahren (P). Demnach sehen alle F1-Bastarde gleich aus.

Zweitens: Die Spaltungsregel gilt für die nachfolgende Generation F2, deren Merkmale bei dominant-rezessiver Vererbung im Verhältnis 3 zu 1 aufgespalten sind. Schließlich die Unabhängigkeitsregel, die besagt, daß zwei P-Merkmale unabhängig voneinander an F1 vererbt werden. Für wissenschaftshistorisch weit wichtiger als diese Regeln hält Fischer den Weltbildwandel in den Lebenswissenschaften des 19. Jahrhunderts, der sich darin abzeichnet. Wer hundert Jahre vor Mendel auf Tiere und Pflanzen schaute, meinte nicht, daß sie sich fortpflanzen und dabei ihre Eigenschaften vererben. Noch Mendels Bischof war überzeugt, diese Geschöpfe Gottes kämen ohne Sexualität und Fortpflanzungsorgane aus.

Erst die Naturforschergeneration, der Mendel angehörte, machte sich daran, zwischen Merkmal und Anlage zu trennen und für sichtbare Phänomene wie die Ähnlichkeit von Individuen nach unsichtbaren, aber empirisch meßbaren und objektivierbaren Ursachen zu suchen. Im Innern seiner Erbsen, so nahm Mendel an, müsse es mithin unsichtbare „Gebilde“ geben, deren Wechselwirkungen sich exakt berechnen ließen. Von Chromosomen ahnte Mendel, der in der mikrobiologischen Steinzeit lebte, natürlich noch nichts. Doch einen ersten großen Schritt ins „Jahrhundert des Gens“ hat er mit seinen Erbsen-Versuchen getan.

Gregor-Mendel-Institut in Wien (GMI):  gregormendel200.org

Mendel-Tage des Naturkundemuseums Bayern:  biotopia.net

Foto: Gregor Johann Mendel (1822–1884) in einer zeitgenössischen Darstellung: In Brünn zählte er zu den frühen Lesern von Charles Darwins „Über den Ursprung der Arten“ (1859) und besuchte als Mönch mehrfach internationale Kongresse. Doch von Chromosomen ahnte der schlesisch-mährische Forscher und Entdecker, der in der mikrobiologischen Steinzeit lebte, natürlich noch nichts.