© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 30-31/22 / 22. Juli 2022

Wohlstand auf der Kippe
Bauernproteste: Hollands oberstes Gericht erzwingt das Ende des zweitstärksten Lebensmittelexporteurs
Markus Brandstetter

Die USA mit ihrer riesigen Landmasse und ihrer hochmodernen Landwirtschaft sind weltweit der größte Exporteur von Lebensmitteln, was kaum jemand verwundern wird. Erstaunlich ist allerdings, wer bei den Lebensmittelausfuhren die Nummer zwei hinter den USA sind – nämlich die kleinen Niederlande mit ihrer im Vergleich winzigen Fläche, die auch noch zu 65 Prozent dem Meer abgetrotzt ist.

Die holländischen Bauern haben im vergangenen Jahr Exportgüter für mehr als 100 Milliarden Euro produziert. Das ist mehr, als das Land wertmäßig an Maschinen oder Öl und Gas ausgeführt hat. Möglich sind solche Spitzenleistungen nur, weil die holländischen Bauern in Relation zur kultivierten Fläche die effizientesten, produktivsten und modernsten weltweit sind. Kein Wunder, daß die Holländer auf ihre Bauern stolz sind und diese eine wichtige Rolle in Land und Gesellschaft spielen, auch wenn sie nur mehr zweieinhalb Prozent der Bevölkerung ausmachen und die Anzahl aller landwirtschaftlichen Betriebe von einer halben Million im Jahr 1950 auf heute 50.000 gesunken ist, reine Bauernhöfe gibt es noch 11.000. 

Diese Spitzenleistungen, über die sich jedes andere Land freuen würde, stehen jetzt auf der Kippe, weil die eigene Regierung das Düngen mit Stickstoff, wenn schon nicht komplett verbieten, dann wenigstens stark beschränken will. Dazu hat das niederländische Parlament im Dezember 2020 ein Gesetz erlassen, das jetzt in Kraft tritt und den Einsatz von stickstoffhaltigem Dünger in der Landwirtschaft bis 2030 um bis zu 70 Prozent verringern soll. Die Auswirkungen für die Agrarwirte wären verheerend: 30 Prozent aller Kühe und Schweine müßten verschwinden, was Tausende von Mast- und Zuchtbetrieben zur Aufgabe zwingen würde. Die Regierung verspricht, jedem Bauern, der aufgibt, Land und Maschinen abzukaufen oder eine Umstellung auf ökologische Produktionsmethoden zu subventionieren, aber die meisten Bauern wollen weder aufgeben noch über Nacht auf die Öko-Schiene umsatteln. Das neue Gesetz – darin sind sich Kritiker und Befürworter einig – würde die über Jahrhunderte entstandene holländische Kultur der landwirtschaftlichen Intensivwirtschaft massiv und unwiederbringlich verändern.

Da stellt sich die Frage, warum eine Regierung auf die Idee kommt, Land, Leute und Landwirtschaft auf einen Schlag so dermaßen einschneidend verändern zu wollen, und wie das Gesetz dahinter überhaupt zustande kommen konnte. Die Antwort hat viel mit gesellschaftlichen Splittergruppen, Anwälten, Richtern und Lobbyismus zu tun.

Angefangen hat alles im Juni 2015, als De Hoge Raad der Nederlanden, der oberste holländische Gerichtshof, die eigene Regierung dazu verurteilte, die CO2-Emissionen des Landes um 25 Prozent im Vergleich zu 1990 zu senken. Kläger war die holländische Urgenda-Stiftung, eine von Rechtsanwälten und Professoren gegründete Umweltorganisation, die ihre Agenda nicht mit Protesten, sondern mit Klagen vor Gerichten durchsetzt. Damit war Urgenda spektakulär erfolgreich. Den Anwälten der Stiftung ist es gelungen, den Hoge Raad davon zu überzeugen, den Schutz der Holländer vor dem Klimawandel als ein Menschenrecht zu interpretieren, das sich aus der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte der UN ableiten und mit dem Klimaabkommen von Paris verknüpfen lasse. Mit dieser Entscheidung hat der oberste Gerichtshof der Niederlande eine internationale Vereinbarung, die zwar von der EU ratifiziert wurde, aber kein EU-Gesetz darstellt, über das nationale Recht des eigenen Landes gestellt. Das hat es in dieser Form noch nie zuvor auf der Welt gegeben. Eine Klage der Regierung gegen das Gesetz vor dem höchsten niederländischen Berufungsgericht wurde zur hellen Freude von Urgenda 2019 letztinstanzlich abgewiesen. Diese Entscheidung hat zur Folge, daß die niederländische Regierung nun eine Fülle von Gesetzen erlassen hat, die Wirtschaft und Gesellschaft zu Maßnahmen verpflichten, den CO2-Ausstoß flächendeckend zu senken – Maßnahmen, die Land und Leute von Grund auf verändern.

Der erste Paukenschlag kam 2019, als der niederländische Staatsrat die Regierung verpflichtete, das Tempolimit auf Autobahnen von 130 auf 100 Stundenkilometer zu reduzieren. Der nächste Akt war eine Gerichtsentscheidung, die den Shell-Konzern dazu verpflichtete, die Kohlendioxidemissionen des Unternehmens bis 2030 um 45 Prozent zu reduzieren. Daraufhin verlegte Shell, der größte Konzern der Niederlande, nach 130 Jahren seinen Hauptsitz von Den Haag nach London, strich das stolz getragene „Royal Dutch“ aus dem Namen, gab seinen fast einzigartigen Status als Dual-listed Company auf und versteuert seine Gewinne zukünftig in Großbritannien. Der dritte Akt des Dramas spielt sich im Moment vor den Augen der Weltöffentlichkeit ab, die den holländischen Bauern dabei zusieht, wie sie mit ihren Traktoren Autobahnen, Straßen und Rathäuser blockieren, um sich der zunehmenden Einschränkung stickstoffhaltigen Düngers und dem Untergang ihrer Kultur zu widersetzen. Im Moment ist nicht klar, wie der Showdown zwischen Bauern und Regierung enden wird. Es wird aber vermutlich auf einen Kompromiß hinauslaufen, denn die holländischen Bauern produzieren eben das in rauhen Mengen, was in diesen Zeiten des Ukraine-Krieges am meisten gebaucht wird: Nahrungsmittel.

Klar ist allerdings, daß in Holland eine winzige Gruppe von exakt 866 Einzelklägern Regierung und Nation dazu gezwungen haben, in die Wirtschaftsstruktur des Landes massiv einzugreifen, was den Wohlstand vieler Niederländer dauerhaft verringern wird. Klar ist außerdem, daß die von Urgenda erklagten Gesetze nicht demokratisch zustande gekommen sind. Auch in den Niederlanden geht alle Staatsgewalt vom Volke aus – und entspringt nicht den in Hinterzimmern ersonnenen Ratschlüssen beamteter Richter, seien diese noch so gut gemeint.

Die Holländer haben mit ihren höchstrichterlichen Entscheidungen und den darauf gegründeten Gesetzen einen fatalen Präzedenzfall geschaffen, der inzwischen eine Reihe ähnlicher Klagen in Belgien, Frankreich, Irland, Großbritannien, der Schweiz  und Deutschland inspiriert hat. Auch beim Europäischen Gerichtshof in Luxemburg sind seit 2019 mehrere Anfechtungen anhängig, mit denen EU-Bürger, vertreten von erstklassigen Anwälten, die EU dazu zwingen wollen, die Beschlüsse des Klima-Übereinkommens von Paris in Form von Gesetzen EU-weit durchzusetzen.

Holland beweist einmal mehr das, was Kritiker der EU von Anfang an vorgeworfen haben: Daß die Demokratie auf dem Rückzug ist.