© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 30-31/22 / 22. Juli 2022

„Das ist nicht unser Krieg“
Kontroverse: Mit ihrer Haltung zum Ukraine-Konflikt unterscheidet sich die AfD von allen anderen Parteien. Was steckt dahinter? Und wie gut sind ihre Argumente? Der Ehrenvorsitzende Alexander Gauland, ehemals Partei- und Fraktionschef, steht Rede und Antwort
Moritz Schwarz

Herr Dr. Gauland, rechnen Sie mit dem Ende der deutschen Rußland-Sanktionen, sobald uns das Gas ausgeht? 

Alexander Gauland: Da läßt sich seriöserweise keine Vorhersage treffen.

Die AfD war bereits von Beginn an gegen die Sanktionen. Warum?

Gauland: Weil sie uns mehr schaden als den Russen, die Öl und Gas – sogar mit Aufschlag – einfach an andere verkaufen. Während wir Energiemangel, Wirtschaftseinbruch, Pleiten, Arbeitslosigkeit und noch mehr Inflation entgegensehen.

Bei Öl und Gas haben Sie recht, doch ein Teil der Sanktionen trifft Rußland schon, etwa der Ausschluß aus dem internationalen Zahlungsverkehr. 

Gauland: Ja, aber nicht so, daß es Entscheidendes bewirkt. Kriege lassen sich nicht mit Sanktionen stoppen, blicken Sie in die Geschichte: Ob Napoleons Kontinentalsperre oder die Blockade Italiens nach dem Einmarsch in Abessinien, die Sanktionen gegen Saddam-Hussein – kein Gegner konnte je so in die Knie gezwungen werden. 

Aber sind Sanktionen nicht ein wichtiges politisches Signal? Gerade wenn sie einem selbst schaden: Sogar unter Opfern sind wir bereit, dir die Stirn zu bieten! 

Gauland: Vielleicht wenn der Krieg in unserem Interesse wäre ... Das ist er aber nicht, und deshalb halte ich es für unzulässig, daß Politiker, die dem Wohl des eigenen Volkes zu dienen haben, auf dessen Kosten andere Interessen verfolgen. 

Die AfD hat den anfangs heftigen parteiinternen Streit um die richtige Politik in dieser Frage durch ein gemeinsames „Positionspapier zum Rußland-Ukraine-Krieg“ beigelegt. Dessen erster Punkt ist die Verurteilung des russischen Angriffs. Daraus könnte man folgern, daß dies also das der Partei wichtigste Anliegen ist – tatsächlich aber vermittelt ihr politisches Auftreten nicht diesen Eindruck. Warum nicht?   

Gauland: Das empfinde ich nicht so. Vielmehr sind wir uns hinsichtlich der Verurteilung des russischen Angriffs mit den anderen Parteien einig, weshalb dies folglich kein Diskussionspunkt ist. Und andere Punkte werden nur deshalb mehr debattiert, weil wir uns dort mit diesen nicht einig sind. 

Aber ist die Verurteilung vielleicht nur ein Feigenblatt? 

Gauland: Nein. Doch natürlich gibt es jenseits dieser Gemeinsamkeit in der Partei unterschiedliche Haltungen zu dem Konflikt – weshalb uns der Vorwurf der „Putinversteher“ gemacht wird. Der aber ist Unsinn, denn die unterschiedlichen Haltungen haben vielmehr damit zu tun, wie man diesen Krieg betrachtet: nämlich als geopolitischen Kampf zwischen Großmächten oder als Kampf der Demokratie gegen den Autoritarismus.

Wie betrachten Sie ihn?

Gauland: Als geostrategischen Konflikt zwischen den USA und Rußland – während im Hintergrund China lauert. Offenbar wollen die Amerikaner bislang keine echten Verhandlungen der Ukraine mit Rußland, sondern den Konflikt. Und das halte ich, aus europäischer Sicht, für falsch. 

Moment, übergehen Sie jetzt nicht völlig, daß es Rußland ist, das die Ukraine angreift?  

Gauland: Nein, denn das eine schließt das andere nicht aus. Entscheidend ist aber, daß uns der Konflikt darob als der Kampf zwischen Freiheit und Autoritarismus dargestellt wird. 

Die Ukraine kämpft ja tatsächlich um ihre Freiheit und Rußland ist spätestens seit Beginn des Krieges de facto eine Diktatur – was also ist daran falsch? 

Gauland: Natürlich verteidigt die Ukraine ihre Freiheit – aber nicht „die“ oder gar unsere Freiheit. Wenn Präsident Selensky das dennoch unablässig behauptet, dann nicht weil es wahr ist, sondern weil er Waffen will – was ja auch völlig verständlich ist. Ebenso muß aber verständlich sein, daß wir eine solche Einschätzung hinterfragen müssen.

Muß das Herz der AfD nicht für die Ukraine schlagen – schon aufgrund ihrer Weltanschauung: sie sympathisiert mit Völkern, die ihre Freiheit verteidigen, wie Briten, Polen oder Ungarn, und ist Moskau nicht noch viel schlimmer als Brüssel, Putin nicht noch viel schlimmer als Merkel?

Gauland: Sicher, doch Sie vergessen, daß dies ein großer geopolitischer Konflikt ist. Womit es viel zu gewagt ist, sich einfach von Sympathien leiten zu lassen. Das würde weder dem gerecht, was auf dem Spiel steht, noch dem was dahintersteht. 

Nämlich, was meinen Sie? 

Gauland: Ich meine, daß wir alle, also der Westen, im Umgang mit Rußland Fehler gemacht haben. Sprich, der Krieg hat eine Vorgeschichte, die man – auch wenn sie Rußlands Angriff nicht legitimiert – nicht einfach beiseite schieben kann.  

Ist das nicht nur eine rhetorische Volte, um Putins Verantwortung für den Krieg zu relativieren?

Gauland: Nein, vielmehr kommen wir aus dem Dilemma, das dieser Krieg darstellt, nicht mehr heraus, wenn wir seine Vorgeschichte nicht reflektieren.

Dann bitte, reflektieren Sie.

Gauland: Nach dem Ende der Sowjetunion haben wir es im Westen versäumt, in Europa eine neue Ordnung zu errichten, die die Russen integriert. Stattdessen wurde einfach weitergemacht wie zuvor und zudem Rußland durch die Nato-Osterweiterung zur Verlierer-Nation degradiert. 

Was bitte bedeutet die Befreiung Osteuropas, wenn nicht, daß die Nationen dort das Recht haben, endlich selbstbestimmt ihren Weg zu gehen – und der führte nun mal auf ihren Wunsch hin auch in die Nato. 

Gauland: Das stimmt, doch ist das unsere westliche Sicht auf die Dinge, nicht aber die russische. Geht es jedoch um Geopolitik, kann man nun mal nicht nur eine Sicht, sondern muß die aller Beteiligten berücksichtigen, sonst gerät die Situation außer Kontrolle. Und die russische Sicht auf die Osterweiterung ist, daß die Nato in ihre Einflußsphäre eindringt. Nun kommt an dieser Stelle stets das Argument, Einflußsphären gäbe es nicht oder dürfe es zumindest nicht geben. Tatsächlich aber wissen wir alle, daß die USA seit der Monroe-Doktrin von 1823, die noch heute Teil ihrer Außenpolitik ist, gar ganz Amerika als Einflußsphäre betrachten und folglich 1961 auch nicht akzeptierten, daß Kuba seinen Weg geht, sondern aus geopolitischer Sicht zu Recht ihre Interessensphäre verteidigt haben.

Aber warum sollten wir dieses imperiale Interesse Rußlands höher bewerten als das nationale und demokratische unserer übrigen osteuropäischen Nachbarn?

Gauland: Ein berechtigter Einwand. Doch wenn man schon sein Versprechen bricht, die Nato nicht gen Osten auszuweiten, weil die Osteuropäer legitimer- und nachvollziehbarerweise nun einmal hineinwollen, hätte man wenigstens den Versuch machen müssen, dafür einen gemeinsamen Weg mit Rußland zu finden und diesem einen angemessenen Platz in der neuen Ordnung einzuräumen. Stattdessen aber wurde Moskau übergangen.

Moment, was ist etwa mit der Nato-Rußland-Akte, was mit der Übergabe der ukrainischen Atomwaffen? 

Gauland: Auch das ist ein berechtigter Einwand, denn tatsächlich hat Moskau mit diesen Verträgen die Verhältnisse anerkannt. Daher gibt es auch keinen Zweifel daran, daß Rußlands jetziges Verhalten seine völkerrechtlichen Verpflichtungen bricht. Allerdings lehrt uns der Blick in die Geschichte, daß völkerrechtliche Verträge immer nur dann zu halten waren, wenn sie von den Völkern auch angenommen wurden. Vergleichen Sie die Friedensordnung des Wiener Kongreses von 1815 mit der des Versailler Vertrags von 1919. Beide völkerrechtlich gültig, hatte die erste Bestand, weil sie auf einem Ausgleich mit Frankreich beruhte, während die zweite nicht hielt, da sie Deutschland vor den Kopf stieß. Was ich damit sagen will: Ja, juristisch haben die Russen unrecht. Historisch und politisch aber war es ein Fehler, sie nicht in die neue Ordnung einzubeziehen, da für jeden mit auch nur ein wenig Geschichtskenntnis klar sein mußte, daß das Völkerrecht alleine es nicht vermag, diese zu garantieren. 

Der brisanteste Punkt des AfD-Positionspapiers ist wohl die Ablehnung, der Ukraine Waffen zu liefern. Warum sind Sie dagegen, da Sie doch in Punkt eins anerkennen, daß das Land Opfer einer Aggression ist?   

Gauland: Wir sind grundsätzlich gegen Waffenlieferungen in Krisengebiete – wobei ich nicht ausschließen würde, daß dies im Einzelfall auch mal nötig sein kann. Für diesen Konflikt jedoch erkenne ich darin keine Lösung. Waffenlieferungen führen nur dazu, ihn weiter anzuheizen – wie wir ja sehen. Dieser Konflikt kann nur auf dem Verhandlungswege gelöst oder zumindest abgekühlt werden. 

Keine Waffen zu liefern bedeutet einen Vorteil für das weit überlegene Rußland, das damit doch gar kein Interesse mehr an der von Ihnen gewünschten Verhandlungslösung hat. 

Gauland: Dennoch heizen Waffenlieferungen alleine diesen Krieg nur an. Wenn, dann müßten diese wenigstens mit Verhandlungen einhergehen. Und ich kann nur hoffen, daß der Westen, und besonders die Europäer, so schlau ist, diese zumindest im geheimen zu führen. 

Sicher, nur geht es um die Konsistenz der AfD-Position: Laut Clausewitz ist Krieg die Fortsetzung der Politik mit anderen Mitteln. Was umgekehrt bedeutet, daß Krieg immer möglichst rasch zurück zur Politik führen sollte. Verläßt nun aber ein Starker die Politik, weil er sich gegen einen Schwachen Krieg erlauben kann, ist es dann gemäß Clausewitz nicht logisch, den Schwachen zu stärken, um den Starken zu zwingen, an den Verhandlungstisch zurückzukehren?

Gauland: Clausewitz’ Zeit unterscheidet sich in einem entscheidend vom Heute – damals gab es keine Atomwaffen. Der Krieg in der Ukraine ist keiner, der uns Deutsche existentiell betrifft. Folglich haben wir auch kein originäres Interesse an Sieg oder Niederlage einer Partei. Woran wir aber sehr wohl ein Interesse haben ist, daß dieser Krieg nicht eskaliert, gar Rußland in eine Lage kommt, in der es versucht ist – nur wenige hundert Kilometer von uns entfernt! – Atomwaffen einzusetzen.

Richtig, aber bedeutet das im Klartext nicht, daß Ihnen lieber noch als eine unsichere Verhandlungslösung ein schneller Sieg Rußlands wäre? Vielleicht nicht aus Russophilie, aber weil dann der Gefahrenherd ausgetreten ist. Sicher kann man das vertreten, aber müßten Sie es dann ehrlicherweise nicht auch öffentlich so sagen? 

Gauland: Nein, und zwar weil es mir nicht, wie Sie unterstellen, um einen Sieg Rußlands geht. Wie gesagt, haben wir kein Interesse am Sieg weder der einen noch der anderen Seite! Es geht uns allein darum, diesen Krieg nicht eskalieren zu lassen – weil genau das es ist, was ihn von einem Konflikt, der uns nicht bedroht, zu einem machen könnte, der uns bedroht – und zwar atomar und damit existentiell.

Was allerdings nur dann stimmt, wenn Sie sicher sein können, daß Putin eine Niederlage der Ukraine nicht animieren würde, früher oder später weiter nach Westen vorzustoßen. Können Sie sich dessen denn sicher sein?

Gauland: Natürlich weiß ich nicht, was Putin denkt. Aber ich halte es für unwahrscheinlich, daß er plant, Polen, Deutschland oder auch nur das Baltikum anzugreifen, wie immer wieder behauptet wird. Und zwar schlicht deshalb, weil er weiß, dann die USA samt Nato am Hals zu haben. Was ich dagegen für möglich halte ist, daß er ehemals russische Länder östlich der Nato erobern möchte.

In der Ukraine-Debatte des Bundestags hat Parteichef Chrupalla Rußland für die Wiedervereinigung gedankt. Wofür dankt die AfD einer Macht, die Millionen Deutsche vertrieben, ermordet, vergewaltigt, verschleppt, Ostdeutschland annektiert, seine Kulturen zerstört und Mitteldeutschland vierzig Jahre lang okkupiert hat? 

Gauland: Ich verstehe Ihre Frage, denn ich bin 1941 in Chemnitz geboren, und dort hat man die Russen zunächst so erlebt, wie Sie es schildern. 1959 flüchtete ich in den Westen und nahm dieses Bild mit. Doch als ich nach der Wiedervereinigung zurückkam, mußte ich lernen, daß über die Jahre eine gewisse Bindung an Rußland und sogar zu sowjetischen Soldaten entstanden war, die ich Ihnen auch nicht erklären kann – vermutlich ähnlich wie etwa im Münsterland zu den Briten, in Südbaden zu den Franzosen oder in Bayern zu den Amerikanern. Ich verstehe gut, daß das für Westdeutsche völlig unverständlich ist, aber es ist eine Realität, die wir in einem gemeinsamen Deutschland zu respektieren haben – und es ist arrogant, diese unterschiedliche Prägung einfach als „Putinversteher“ zu denunzieren.






Dr. Alexander Gauland, der Bundestagsabgeordnete ist Mitglied des Auswärtigen Ausschusses und Ehrenvorsitzender der AfD. Zuvor war er von 2017 bis 2019 ihr Bundessprecher sowie von 2017 bis 2021 Fraktionschef. Von 1973 bis 2013 CDU-Mitglied, leitete der Ex-Staatssekretär im Bundesumweltministerium von 1987 bis 1991 die hessische Staatskanzlei und war von 1991 bis 2006 Herausgeber der Märkischen Allgemeinen Zeitung. Er publizierte etliche Bücher, etwa „Die Deutschen und ihre Geschichte“ (2009). Geboren wurde der Jurist 1941 als Sohn eines durch die NSDAP frühpensionierten Polizeiobersten in Chemnitz. 

Foto: AfD-Außenpolitiker Gauland: „Wir alle, der Westen, haben im Umgang mit Rußland einen Fehler gemacht. Dieser Krieg hat eine Vorgeschichte, die man nicht einfach beiseite schieben kann“