© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 30-31/22 / 22. Juli 2022

Szenen wie in einem Bürgerkrieg
Polizeiliches Lagebild: Nach einer spektakulären Schießerei in Duisburg informiert Niedersachsen nun über Clan-Kriminalität
Peter Möller

Szenen wie im Bürgerkrieg: Schüsse peitschen über den Altmarkt im Duisburger Stadtteil Hamborn, Menschen rennen um ihr Leben, schreien auf türkisch und arabisch. Mehr als 20 Patronenhülsen fand die Polizei nach der spektakulären Schießerei Anfang Mai zwischen dem türkisch dominierten Rockerclub Hells Angels und einem arabischen Familienclan und ermittelte 49 Tatverdächtige mit 149 Vorstrafen. Darunter versuchter Mord, schwere Körperverletzungen, Drogendelikte, Betrug, Verstöße gegen das Waffenrecht sowie Sexualdelikte. Ein staatenloser Verdächtiger bringt es auf ganze 15 Vorstrafen. Wie die Landesregierung Nordrhein-Westfalens auf Anfrage der AfD-Landtagsfraktion weiter mitteilte, werden allein in Duisburg 216 polizeibekannte Personen dem Clan-Milieu zugerechnet. 

Das Feuergefecht wirft ein Schlaglicht auf die brutalen Methoden, mit denen im Clan-Milieu Auseinandersetzungen in aller Öffentlichkeit ausgetragen werden. Doch ist das nur die Spitze des Eisbergs, meist finden die Machenschaften der Großfamilien im verborgenen statt. Nachdem deutsche Behörden jahrzehntelang die Augen vor den aus dem Nahen Osten importierten Strukturen der arabischen Clans, die sich besonders in Niedersachsen, NRW und Berlin festgesetzt haben, verschlossen hatten, bemüht man sich seit einigen Jahren, dem Problem Herr zu werden – viel zu spät, wie Experten glauben.

58 Prozent der Tatverdächtigen haben einen deutschen Paß

In der vergangenen Woche legte die Landesregierung Niedersachsens, das sich seit einiger Zeit als Vorkämpfer gegen die kriminellen Großfamilien versteht, ihr Lagebild zum Thema vor. Danach gab es 2021 im Land 2.841 Fälle von Clan-Kriminalität – 890 mehr als im Vorjahr. Der Anstieg sei, so Innenminister Boris Pistorius (SPD) und Justizministerin Barbara Havliza (CDU), jedoch nicht auf mehr Aktivitäten der Clans zurückzuführen, sondern auch auf den wachsenden Verfolgungsdruck.

Weiter wurden laut Lagebild im vergangenen Jahr 2.622 Verdächtige der Clan-Kriminalität zugeordnet – ein deutlicher Anstieg: 2020 waren es 1.886 Personen. Von den Verdächtigen sind fast 84 Prozent männlich, 58 Prozent haben einen deutschen Paß, sind aber mehrheitlich ausländischer Abstammung. Die Hauptherkunftsländer der übrigen 42 Prozent heißen Türkei, Rumänien, Libanon und Syrien. Und auch die eingebürgerten Verdächtigen haben ihre Wurzeln zumeist in diesen Ländern. 

Vor allem sogenannte Rohheitsdelikte, Straftaten gegen die persönliche Freiheit und Drogengeschäfte machen den Hauptteil der Clan-Kriminalität aus. Während der Pandemie kam das Fälschen von Impfpässen und der Betrug mit Corona-Testzentren hinzu sowie das Bedrohen von Polizeibeamten.

Pistorius verwies darauf, daß die Straftaten der Clans zwar nur 0,6 Prozent der polizeilichen Kriminalstatistik Niedersachsens ausmachten, der niedrige Wert indes kein Grund zur Beruhigung sei. Denn den Clans gehe es nicht allein darum, auf kriminellem Wege Profit zu machen, sondern auch, in ihrem Wirkungskreis staatliche Institutionen zurückzudrängen und an ihre Stelle zu treten. Die Clans wollten zeigen, daß Gesetze für sie nicht gelten, und den Opfern durch ihr Auftreten das Gefühl vermitteln, Polizei, Justiz und andere Behörden seien geradezu machtlos gegen sie. „Aber das ist nicht der Fall“, versicherte Pistorius bei der Vorstellung des Lagebildes, denn seine Strafbehörden verfolgten unnachgiebig eine „Null-Toleranz-Strategie“. Landespolizeipräsident Axel Brockmann versicherte: „Rechtsfreie Räume und Paralleljustiz werden nicht geduldet!“ Hochwertige Fahrzeuge, die oft als Statussymbol dienen, um Macht auf der Straße zu demonstrieren, würden beschlagnahmt, ebenso wie Führerscheine.

Experten bezweifeln indes, daß mit solch öffentlichkeitswirksamen Nadelstichen tatsächlich nachhaltig Erfolg gegen die im Notfall zum äußersten entschlossenen Clans erzielt werden kann. Wichtig sei vielmehr permanenter Verfolgungsdruck, konsequente Strafverfolgung und entsprechende Urteile. Justizministerin Havliza räumt ein, daß dies schwierig sei, da man Straftaten konkret Personen zuordnen müsse. Zudem lebten nach Schätzung der Behörden allein in Niedersachsen mehrere hundert kriminelle Großfamilien, bei denen nicht immer alle Mitglieder in Verbrechen verwickelt seien, manchmal sind es sogar nur wenige. 

Die AfD fordert, Clan-Kriminelle künftig nicht mehr einzubürgern 

Die Opposition in Hannover zieht wenig überraschend eine deutlich kritischere Bilanz: Vor allem, daß der Anstieg der registrierten Delikte Folge gewachsenen Verfolgungsdrucks sei, stößt auf Skepsis. Die AfD verweist zudem auf eine Entwicklung, die die Bekämpfung der Großfamilien zunehmend erschwere: Clan-Mitglieder erhalten immer öfter einen deutschen Paß. „Wir fordern, Clan-Kriminelle nicht mehr einzubürgern, sondern abzuschieben“, verlangt der innenpolitische Sprecher der AfD-Gruppe im Landtag, Klaus Wichmann. Der Entzug der deutschen Staatsangehörigkeit müsse viel häufiger Anwendung finden. Doch nicht nur in Niedersachsen dürfte es schwierig werden, diese Forderung durchzusetzen.

Bestes Beispiel: Nordrhein-Westfalens neuer Justizminister Benjamin Limbach (Grüne). Nachdem die Details zur Duisburger Schießerei öffentlich wurden, warnte er vor einer Stigmatisierung von Clan-Mitgliedern. Es bestehe die Gefahr, daß deren Loyalität gegenüber der Großfamilie noch gestärkt werde. Limbach spricht statt dessen lieber von „Organisierter Kriminalität“.