© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 30-31/22 / 22. Juli 2022

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Bildung: Das Leistungsniveau von Grundschülern sinkt / Zusätzliche Lehrer benötigt
Jörg Kürschner

Was Eltern, Lehrer, Schüler und Bildungsexperten seit langem befürchtet haben, ist jetzt durch eine repräsentative Studie bestätigt worden. Das Leistungsniveau der Grundschulkinder ist dramatisch gesunken; nur zum Teil verursacht durch die pandemiebedingten Schulschließungen. Knapp 27.000 Viertkläßler an 1.464 Schulen aus allen 16 Bundesländern waren vor den Sommerferien 2021 getestet worden, ob sie die von den Kultusministerien festgelegten Standards in Deutsch und Mathematik erreichen.

„Die Lage ist wirklich besorgniserregend“, faßt Petra Stanat die Expertise zusammen, Leiterin des Instituts zur Qualitätsentwicklung im Bildungswesen (IQB). „Im Vergleich zum Jahr 2016 entsprechen die Kompetenzrückgänge etwa einem Drittel eines Schuljahres im Lesen, einem halben Schuljahr im Zuhören sowie jeweils einem Viertel eines Schuljahres in der Orthographie und im Fach Mathematik“, heißt es dort.  

Besonders schlecht schneiden Einwandererkinder ab

Nach den Worten der Institutsleiterin ist der Anteil der Kinder, die nicht einmal den Mindeststandard erreichen, beim Lesen seit 2016 von knapp 13 auf nun fast 19 Prozent gestiegen, in der Rechtschreibung von 22 auf 30 und in der Mathematik von gut 15 auf fast 22 Prozent. „Diese Zahlen müssen uns alarmieren“. Den Leistungsabfall führt Stanat nur zum Teil auf die Pandemie zurück. Bereits der Trend zwischen 2011 und 2016 sei negativ gewesen, Corona habe diese Entwicklung noch einmal verschärft. Wenn es Lücken etwa beim Lesen gebe, sei es schwer, diese später zu schließen.

Kinder mit Migrationshintergrund schneiden in der Studie besonders schlecht ab. Im Kapitel „Zuwanderungsbezogene Disparitäten“ kann auch das beste Soziologendeutsch nicht unterschlagen, daß deren schulische Leistungen unzureichend sind, trotz vielfältiger Integrationsbemühungen. Da ist davon die Rede, daß sich deren Kompetenzen bereits seit 2011 „signifikant ungünstiger entwickelt haben“ als bei Schülern ohne Zuwanderungshintergrund. Zu beobachten sei eine deutliche Verstärkung der Ungleichheit.

Die Studie ist erwartungsgemäß auf ein lebhaftes Echo gestoßen, das sich im Oktober noch verstärken dürfte. Dann will das IQB die Daten nach Ländern aufschlüsseln; nach dem „groben Schlaglicht“ will man die Ergebnisse „vertiefend analysieren“. Der Deutsche Philologenverband (DPhV) plädierte für eine „leistungsorientierte Korrektur der Bildungsstandards für die Grundschule“. Es sei zu wenig, sich gerade einmal auf eine „lesbare Handschrift und eine in den Kernbereichen korrekte Orthographie zu einigen“, betonte Verbandschefin Susanne Lin-Klitzing. 

Aufschlußreich über die desaströse Situation in vielen Grundschulen ist der Appell des Verbandes hinsichtlich des Mathematikunterrichts. „In der Mathematik halten wir es für unabdingbar, daß neben den schriftlichen Verfahren der Addition, Subtraktion und Multiplikation auch das schriftliche Verfahren der Division eingeführt wird.“

Deutliche Worte findet auch der Deutsche Realschullehrerverband: „Wenn man zunehmend von Grundschulen ohne Noten sinniert, sich in pseudopädagogischen Vermittlungsstrukturen und Experimenten ergeht, Förderschulen abschafft, muß einen das Ergebnis nicht verwundern“, kommentiert Verbandschef Jürgen Böhm. Der Verband Bildung und Erziehung (VBE) appellierte an die Politik, „Konzepte für die Gewinnung zusätzlicher Lehrkräfte zu liefern, ohne die Qualität der Lehrkräfteausbildung auszuhöhlen“.

Die Präsidentin der Kultusministerkonferenz (KMK), Schleswig-Holsteins Bildungsministerin Karin Prien (CDU), erinnerte an die Forderung der Länder, das Bundesprogramm „Aufholen nach Corona“ mit zusätzlichen 500 Millionen Euro bis zum Schuljahrsende 2023/2024 zu verlängern. Nur so seien die Lernrückstände aufzuholen. Ihr Hamburger Kollege Ties Rabe sieht in den Ergebnissen eine „Ohrfeige für alle, die sich so lebhaft für Schulschließungen eingesetzt haben“. Mit Blick auf die Zeit nach den Sommerferien stellte der SPD-Politiker klar: „Ich halte Schulschließungen für Wahnsinn, das ist ein deutscher Sonderweg, und ich werde mich dafür einsetzen, daß es nicht wieder dazu kommt.“ 

Die AfD-Bildungspolitikerin Nicole Höchst verlangte „strengere Zulassungsverfahren für ein Studium oder die Wiedereinführung der verpflichtenden Schullaufbahnempfehlungen am Ende der 4. Klasse“. Die ehemalige Studienrätin: „Eine entschiedene Abkehr von der Spaß- und Kuschelpädagogik ist dringlich.“ 

Unberücksichtigt in der IQB-Studie ist die Zunahme von Kindern und Jugendlichen aus der Ukraine, die ab Februar wegen des russischen Angriffskriegs aus ihrer Heimat flüchten mußten. Ihre Zahl wird mit 242.000 angegeben (Stand Mai). Dadurch hat sich der Lehrermangel noch verschärft, so daß immer mehr Schulen Hilfskräfte einstellen müssen. In Berlin liegt der Anteil der Quereinsteiger ohne pädagogische Ausbildung bereits bei etwa 20 Prozent. Um den Lehrerberuf wieder attraktiver zu machen, werden Lehramtsanwärter in der Bundeshauptstadt wieder verbeamtet. 

In Baden-Württemberg mußte sich sogar Ministerpräsident Winfried Kretschmann (Grüne) ob des Lehrermangels einschalten. „Bitte überlegen Sie sich doch, ob Sie nicht im kommenden Schuljahr eine, zwei oder vielleicht sogar drei zusätzliche Stunden unterrichten können“, heißt es in einem Schreiben an die Lehrer. Auch ein Hinausschieben des Ruhestands solle überlegt werden. Hintergrund ist die Praxis einiger Länder, befristet angestellte Lehrer vor den Sommerferien in die Arbeitslosigkeit zu schicken. Anschließend werden sie weiter beschäftigt. Im Musterländle sind 4.000 Lehrer betroffen. 

Die ukrainische Generalkonsulin in Hamburg, Iryna Tybinka, hatte sich für einen Unterricht von Flüchtlingskindern in Ukrainisch stark gemacht. In den Willkommensklassen könne die nationale Identität Schaden nehmen. Denn der Unterricht in der Ukraine sei „intensiver, vollzieht sich in kürzerer Zeit als der in Deutschland und er hat ebenso höhere Anforderungen“.