© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 30-31/22 / 22. Juli 2022

Grüne Übermacht
Krisenstimmung in der Koalition: Die anfängliche Ampel-Harmonie ist weitgehend verflogen / Einigkeit nur bei linker Gesellschaftspolitik
Peter Freitag

Die Bundesregierung geht mit einigen Hypotheken in die Sommerpause: Rußlands Krieg gegen die Ukraine, der drohende Gas-Lieferstopp, steigende Energiepreise und die allgemeine Inflation. Dazu noch der Dauerbrenner Corona samt den im September auslaufenden Regelungen des Infektionsschutzgesetzes. Folgen im Herbst bei steigenden Infektionszahlen neue Einschränkungen, wie von Gesundheitsminister Karl Lauterbach (SPD) beabsichtigt und von den Grünen mutmaßlich mitgetragen? Oder kann sich die FDP durchsetzen, die sich gegen solche Pläne sperrt? Es knirscht jedenfalls hinter den Kulissen der Ampel, die doch anfangs so betont harmonisch in ihr erstes Regierungsjahr gestartet war. 

Doch auch die erste Geschlossenheit nach dem 24. Februar, der „Zeitenwende“ (Kanzler Olaf Scholz), zeigt mittlerweile Risse. Kälter duschen oder die noch vorhandenen Kernkraftwerke länger laufen lassen? In der Bewältigung der sich absehbar verschärfenden Energiekrise haben vor allem Grüne und FDP deutliche Differenzen. Neue „Entlastungspakete“ schnüren oder die Schuldenbremse wieder in Kraft setzen? Auch hier ist man uneins. Sogar beim Sondervermögen für die Bundeswehr gibt’s Knatsch: Bevor er das Geld überweise, so Finanzminister Christian Lindner (FDP), solle die Kollegin Christine Lambrecht (SPD) im Verteidigungsressort doch bitte erst einmal das Beschaffungswesen reformieren. 

Angesichts vorhandener oder absehbarere Kontroversen wird bei Fragen des gesellschaftspolitischen Umbaus die Einigkeit und Harmonie in der Ampel besonders betont. Schon im Koalitionsvertrag wurde klar: Hier ziehen Rote, Grüne und Gelbe an einem Strang – wenn auch möglicherweise aus unterschiedlichen Gründen. Ob bei der Abschaffung des Werbeverbots oder dem, was man dem Wahlvolk als „Selbstbestimmungsgesetz“ verkauft: der Abschaffung des Transsexuellengesetzes und Einführung des bedingungslosen Geschlechtswechsels im Personenstandsregister. Darüber hinaus hat die Koalition in ihrem Migrationspaket auch das „Chancenaufenthaltsrecht“ beschlossen, mit dem Leute, die bisher eigentlich nur geduldet waren, ein dauerhaftes Bleiberecht erhalten sollen. Das sind die Themen, mit denen das Versprechen in der Überschrift des Koalitionsvertrags von 2021 eingelöst werden soll: „Mehr Fortschritt wagen.“

Der FDP stellen sogar die Spitzen der deutschen Wirtschaft ein alles andere als schmeichelhaftes Zeugnis aus. Nur sieben Prozent der vom Meinungsforschungsinstitut Allensbach gefragten Führungskräfte in Unternehmen haben den Eindruck, die Liberalen dominierten die Regierungskoalition. Zehn Prozent der Befragten attestieren das der Kanzlerpartei SPD – und 73 Prozent erkennen eine Dominanz der Grünen. Kaum überraschend, daß in derselben Umfrage auch 92 Prozent der Mitglieder in der Wirtschaftselite von der Arbeit des Grünen Robert Habeck angetan sind, während nur 43 Prozent mit der des Finanzministers Christian Lindner zufrieden sind – und eine Mehrheit von 53 Prozent dem FDP-Mann attestierten, keine gute Arbeit zu leisten.

Doch anstatt sich wie von der Stammklientel erwartet als Bollwerk gegen zuviel Umverteilung zu profilieren, konnte die FDP bisher nur das generelle Tempolimit auf Autobahnen verhindern. Weit weniger Widerstand leisteten die Liberalen etwa gegen grüne Identitätspolitik, wie sich bei der Wahl Ferda Atamans zur Anti-Diskriminierungsbeauftragten zeigte. Die FDP ist von zweistelligen Werten weiter weg als von der Fünfprozenthürde, die Grünen rangieren in den Umfragen vor der SPD von Kanzler Scholz. Entspannte Urlaubsstimmung dürfte da im gesamten Kabinett nicht aufkommen.