© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 30-31/22 / 22. Juli 2022

Zwischen Reichstag und Kanzleramt
Sommer in Bundes-Berlin
Christian Vollradt

Was manchen Tieren der Winterschlaf, ist den Abgeordneten die parlamentarische Sommerpause: Zeit, um die Pulsfrequenz mal etwas zu verlangsamen. Laut Plan müssen ihre Rollkoffer erst wieder am 5. September Richtung Reichstag übers Pflaster rattern, so lange geht es in den heimischen Wahlkreis, zur Familie, in den Urlaub. Manchem freilich blüht noch ein Parteitag oder das Engagement für den näher rückenden Wahlkampf – etwa in Niedersachsen, wo im Oktober ein neuer Landtag bestimmt wird.

Die letzte Sitzungswoche konnten sich die Damen und Herren mit dem einen oder anderen Sommerfest versüßen. Nach zweijähriger Corona-bedingter Unterbrechung wurden diese beliebten Veranstaltungen sehnsüchtig erwartet, egal ob bei einer rustikalen „Lüttje Lage“ im Garten der Niedersächsischen Landesvertretung oder zwei Tage später gegenüber im Garten der Hessen, wo sich auch der ehemalige Bundesaußenminister Joschka Fischer sichtlich wohl zu fühlen schien. 

Das alles ist nun mit der letzten Sitzungswoche vorbei. Der Bundestag hat sich spürbar geleert, die Schlangen zur Mittagszeit in der Kantine werden wieder deutlich kürzer. Was jetzt noch brummt, ist der Maschinenraum im Zentrum der Demokratie: Vor Ort sind nach wie vor die Beamten der Verwaltung, die Referenten der Fraktionen und die Abgeordneten-Mitarbeiter, die Frauen und Männer vom Etagendienst und die zahlreichen Handwerker. 

Auf den Straßen im Regierungsviertel dominieren unterdessen die Touristen, man sieht mehr Bermudas als Business-Anzüge, mehr Flip-Flops als Budapester. Es herrscht ein fröhliches Sprachen-Wirrwarr, und die Kameras der Mobiltelefone sind im Dauereinsatz. Auf der Spree tuckern die Ausflugsschiffe, durch den Lautsprecher krächzt „… and on se left you see se Reichstagsbuilding …“ Besucher schlängeln sich durch die gläserne Kuppel, auch die Dachterrasse ist bis Mitternacht geöffnet (mit Anmeldung). Bei Einbruch der Dunkelheit verwandelt sich die Fassade des Marie-Elisabeth-Lüders-Hauses in eine Kinoleinwand. Unter dem Titel „Dem deutschen Volke – Eine parlamentarische Spurensuche. Vom Reichstag zum Bundestag“ zeigt eine Video-Installation die Geschichte des Parlamentarismus in Deutschland. Der Ton in verschiedenen Sprachen läßt sich über das eigene Handy individuell zuschalten. 

Doch die sommerliche Ferienstimmung im Bundestag kann jederzeit enden. Manche Politiker haben dieser Tage die mahnenden Worte des seinerzeitigen Bundestagspräsidenten Norbert Lammert (CDU) noch im Ohr, mit denen er seine Kollegen im Krisenjahr 2015 in die Sommerpause entließ: „Schwimmen Sie nicht zu weit raus.“ Die Möglichkeit einer Sondersitzung, für die die 736 Abgeordneten ihren Urlaub unterbrechen müssen, ist nicht ausgeschlossen. Lammerts Nach-Nachfolgerin Bärbel Bas (SPD) erinnerte die Mitglieder des Hohen Hauses daran, „regelmäßig in ihre Postfächer zu schauen“. Denn es könne sein, „daß ich Ihnen eine verpflichtende Dienstreise nach Berlin organisiere“.