© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 30-31/22 / 22. Juli 2022

Es fährt ein Zug nach Nirgendwo
Reportage: Die Bahn als Inbegriff für Zuverlässigkeit? Das war einmal – Erlebnisse vom Irrsinn auf Deutschlands Schienen
Hinrich Rohbohm

Die Durchsage des Schaffners wird nur noch mit hämischem Lachen zur Kenntnis genommen: „Der Anschlußzug nach Bremen konnte leider nicht mehr warten“, lautet die Information. „Super, jetzt sitze ich hier erst mal in Hannover fest“, flucht ein Mann irgendwo im Abteil. 

Einzelschicksale von Gästen der Deutschen Bahn, die seit Jahren zum Reisealltag gehören. Ebenfalls seit Jahren kündigt die Politik Verbesserungen an. Doch das dauert. Der Investitionsstau ist hoch. Der Sanierungsbedarf ist auf 60 Milliarden Euro angewachsen: marode Schienennetze, defekte Weichen, Graffiti-verschmierte, verfallende Bahnhofsgebäude, die zum Teil noch aus der Kaiserzeit stammen, technische Mängel an den Zügen – hinzu kommt: Auch die Bahn hat mit einem drastischen Fachkräftemangel zu kämpfen.

„Mein ‘Meeting’ kann ich jetzt vergessen“

Vor allem Lokführer gibt es zu wenige. Mehr als tausend von ihnen gehen in den nächsten Jahren in den Ruhestand und neue einzustellen scheitert oft an der Bürokratie. So gilt die Fahrerlaubnis eines Lokführers stets nur für ein Unternehmen. Will er bei einem anderen Betrieb arbeiten, so muß er noch einmal neu ausgebildet und geprüft werden.

Weniger als 60 Prozent der Fernzüge erreichten im vergangenen Monat pünktlich ihr Ziel. Im Mai waren es noch knapp über 60, bis Anfang des Jahres sogar noch über 80 Prozent. Besonders anfällig für Verspätungen ist der Großraum Frankfurt sowie das nordbadische Mannheim, der zweitgrößte Bahnknoten im Südwesten nach Stuttgart. Weniger als die Hälfte der Züge kommt rechtzeitig an. 

Die JUNGE FREIHEIT machte den Test. In Fern- und Regionalzügen geht es quer durch die Republik. Durch die verspätungsanfälligen Nadelöhre von Frankfurt und Hannover. Wartend an den überfüllten Bahnsteigen von Mannheim. Stehend in überbelegten Waggons. Die individuelle Pünktlichkeitsquote: null Prozent.

Fahrt von Hamburg nach Frankfurt: Über eine Stunde Verspätung. Begründung: Oberleitungsschaden. In der Main-Metropole angekommen Umsteigen in den nächsten ICE Richtung Mannheim. 30 Minuten Verspätung. Gewühl am Gleis. Auf der Fahrplan-Anzeigetafel laufen weiß unterlegte Verspätungsmeldungen bei nahezu allen Zugverbindungen. Die Ansage „Wir bitten um Entschuldigung“ entwickelt sich zur Dauerschleife.

„Nie wieder Bahn“, flucht ein hochgewachsener Mann mit weißem Hut und Sonnenbrille vor sich hin. Auch er will nach Mannheim. „Mein Wagen ist in der Werkstatt, deshalb habe ich ausnahmsweise den Zug genommen“, erzählt er der JF. Eigentlich hätte er gleich schon „ein Meeting“ gehabt. „Das kann ich jetzt vergessen!“

Aus den 30 werden 40 Minuten, bis der ICE endlich einfährt. Kurz zuvor: Wieder weiß unterlegter Text auf der Anzeige, geänderte Wagenreihung, Fahrgäste laufen vom vorderen zum hinteren Gleisabschnitt und umgekehrt. Geschubse und Gedränge vor den Zugtüren. Anschließend: Kampf um die Sitzplätze. Viele müssen erneut stehen.

In Mannheim angekommen hat sich die Verspätung auf 50 Minuten erhöht. Beide Zugfahrten addiert beläuft sich die Verspätung für eine ICE-Fahrt von Hamburg nach Mannheim auf fast zwei Stunden. Ein unglücklicher Einzelfall? Keineswegs. Laut der Internetseite „Zugfinder.de“ lag die durchschnittliche Pünktlichkeitsquote bei allen ICE-Zügen in Deutschland am vergangenen Donnerstag bei gerade einmal 38,9 Prozent. Auch eine zweistündige Verspätung ist bei der Deutschen Bahn im Jahre 2022 längst kein unglücklicher statistischer Ausrutscher.

Den Rekord hält an diesem Tag der Intercity Nummer 650. Mit 362 Minuten Verspätung: Sechs Stunden und zwei Minuten. Der ICE 104 von Amsterdam nach Basel ist mit einer verzögerten Ankunft von fünf Stunden und 14 Minuten ebenfalls mit einer wenig schmeichelhaften Fahrtzeit unterwegs. Der Grund: „Reparatur am Zug“. Allein auf dieser Strecke verzeichnet der ICE 104 eine Pünklichkeitsquote von gerade einmal 14 Prozent. Seine durchschnittliche Verspätung innerhalb der letzten 30 Tage: 57 Minuten. Der Intercity 104 toppt diese Quote mit durchschnittlich drei Stunden und sieben Minuten innerhalb des letzten Monats aber noch locker.

In den Regionalzügen sieht es angesichts des von der Bundesregierung auf den Weg gebrachten Neun-Euro-Tickets nicht besser aus. „Das ist ja schön, wenn dadurch jetzt mehr Fahrgäste auf die Bahn umsteigen. Aber das heißt dann auch, daß wir zunächst mal mehr funktionierende Züge und mehr Personal benötigen. Beides ist doch bisher nur unzureichend vorhanden“, kritisiert eine Schaffnerin, die ihren Namen nicht in der Zeitung lesen möchte. Sie spricht von frustrierten Kollegen, „die jetzt alles abbekommen, was die Politiker versaut“ hätten. Wütende Fahrgäste und  technische Mängel an und in den Zügen gehören für sie längst zum Tagesgeschäft.

Kein Schaffner, keine Durchsage, keine Information auf der Anzeige

Weitere Stichprobenfahrt zurück Richtung Frankfurt, diesmal mit der Regionalbahn: Umstieg in Weinheim, Ankunft mit 15 Minuten Verspätung, der Anschlußzug läßt auf sich warten: „Personen auf dem Gleis.“ Voraussichtliche Ankunft: erst 15, dann 20, schließlich 25 und zuletzt 35 Minuten später – doch auch dann erscheint kein Zug. Gang zur Bäckerei: „Ein Cappuccino und ein Croissant, bitte.“ Die Verkäuferin grinst: „Sie warten bestimmt auf Ihren Zug.“ Richtig. „Und der hat Verspätung.“ Auch richtig. „Kennen wir schon“, sagt die Frau und grinst noch breiter. Ständig kehren Leute bei ihr ein, „entweder weil der Zug ausfällt, zu spät kommt oder weil sie einfach in der falschen Bahn gelandet sind“. Letzteres passiert offenbar häufiger – dank kaputter Anzeigen und fehlender Lautsprecherdurchsagen, wie sich herausstellt. Die Regionalbahn nach Frankfurt kommt auch nach Croissant und Cappuccino nicht. Alternative: Rückfahrt nach Mannheim. Auch in diesem Zug fehlen Anzeigen und Lautsprecherdurchsagen. „Ist das hier der Zug nach Mannheim oder nach Heidelberg?“ fragt eine ältere Dame die Mitreisenden im Waggon. Niemand kann ihr eine sichere Antwort geben. „Wir wissen es selbst nicht genau“, sagen einige. „Wir hoffen es, aber hier war noch kein Schaffner. Es gibt auch keine Durchsage, und die Anzeigen funktionieren ja nicht“, erklärt jemand die unbefriedigende Situation.

„Ist das hier in Deutschland etwa immer so?“

Schließlich Gewißheit: Der Zug rollt in Mannheim ein – zehn Minuten Verspätung. Zweiter Versuch nach Frankfurt zu kommen, diesmal über Ladenburg: Wieder Verspätung, Weichenstörung – erst nur 15 Minuten, später werden es 40. Über Lautsprecher kommt eine Ansage. Es sind nur Wortfetzen zu verstehen. Die Anlage ist ebenfalls defekt. Ein Spanier wartet auch auf den Zug. „Ist das hier in Deutschland immer so?“ fragt er irritiert. Kopfnicken bei den Mitwartenden.

Ankunft in Frankfurt mit fast einer Stunde Verspätung. Per ICE geht es zurück nach Hamburg. Nächste Verzögerung: Reparatur am Zug. Auf dem Weg eine kurze weitere Unterbrechung, defektes Stellwerk, und im Speisewagen streikt die Klimaanlage. Das Abteil und ein Erste-Klasse-Wagen sind gesperrt. Ansonsten verläuft die Fahrt glimpflich. Einfahrt in Hamburg mit „nur“ 20 Minuten Verspätung. „Da haben wir ja richtig Glück gehabt“, stellt ein wohlbeleibter Fahrgast um die 60 zufrieden fest. Man kann ihm nicht widersprechen.

Weitere Bahn-Abenteuer lassen sich übrigens in der „DB-Lounge“, wie der Wartebereich heißt, am Hamburger Hauptbahnhof erleben. Zu später Stunde tanzen dort im wahrsten Sinne des Wortes die Mäuse auf den Tischen. „Das geht jetzt schon seit Monaten so“, stöhnt eine Bahnangestellte. Durch den Umbau der Lounge seien die Tiere über die darunter befindliche Bäckerei eingedrungen. Und die Nager werden wohl noch länger bleiben, denn: „Wir dürfen aus Tierschutzgründen nichts unternehmen“, beschreibt die Mitarbeiterin das Dilemma im Deutschland des Jahres 2022.

Foto: Gedränge auf dem Kölner Hauptbahnhof: „Nie wieder Bahn!“ flucht ein Mann, und eine Bahnangestellte: „Wir bekommen ab, was die Politik versaut hat!“