© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 30-31/22 / 22. Juli 2022

Krieg, wo andere Urlaub machen
Mittelmeer: Das Säbelrasseln zwischen der Türkei und Griechenland wird merklich lauter – kommt es zum Äußersten?
Georgios Philis

Der türkische Außenminister Mevlüt Çavuşoğlu nahm am 24. Juni 2022 kein Blatt vor den Mund. „Wir haben eine Verantwortung für unsere Geschichte und für unsere Zukunft. Wir sollten nicht vergessen, daß es eine Türkei gibt, die größer ist als unser Land. Deshalb dürfen wir uns nicht in unseren Grenzen einschließen lassen“, schrieb der AKP-Politiker in der griechischen und türkischen Presse. Und schon eine flüchtige Lektüre dieser Sätze zeigt in aller Deutlichkeit die wahren Bestrebungen Ankaras. Leider wird die Aussage über ein „Land“ jenseits der Landesgrenzen durch Präsident Recep T. Erdoğans Äußerung bestätigt, die „Grenzen in seinem Herzen“ seien breiter als die tatsächlichen Grenzen seines Landes. Hier wurde ein Wortspiel in eine Position der türkischen Außenpolitik umgewandelt.

Die Türkei verfolgt eine revisionistische Außenpolitik

In ihrem Versuch, eine Grundlage für ihre revisionistischen Ansichten zu schaffen und sich gegenüber der inländischen öffentlichen Meinung und  dem Ausland zu rechtfertigen, verwendet die Türkei zwei Theorien als „Evangelien“ der Außenpolitik. Die erste ist der „Misak-I Milli“ (zu deutsch „Nationaler Eid“), ein Text von Mustafa Kemal Atatürk aus dem Jahr 1919, in dem die damalige osmanische Türkei dazu aufgefordert wird, mit den Entente-Mächten Frieden zu schließen, wenn sie dafür die Kontrolle über das griechische Thrakien und über die Regionen Nordsyrien und Nordirak erhält! Das zweite „Evangelium“ der türkischen Außenpolitik heißt „Mavi Vatan“ (zu deutsch „Blaue Heimat“) und ist ein Theorem von 2019, nach dem die Türkei die Lufthoheit über die Hälfte der Ägäis und die Hälfte des östlichen Mittelmeers beansprucht und die gesamte Inselstaatlichkeit Griechenlands und Zyperns ignoriert.

Ankara baut also derzeit eine Argumentation auf, um eine Invasion in die Gebiete seiner Nachbarschaft zu rechtfertigen. Leider stehen sowohl die internationale Gemeinschaft als auch die angeblich besonders sensible westliche Gesellschaft der Türkei tatenlos gegenüber. Erstens besetzt die Türkei weiterhin 37 Prozent der Insel Zypern und droht damit, sich die besetzten Gebiete einzuverleiben. Zweitens betreibt Ankara eine willkürliche und unerbetene Invasion im Nordirak. Drittens bereitet die Türkei sich mit Söldnern und offiziellen Truppen auf einen erneuten Einmarsch in Syrien vor und spielt viertens eine wesentliche Rolle im Konflikt in Libyen.

Mit anderen Worten: Ankara hat derzeit Besatzungstruppen in vier benachbarten oder fast benachbarten Ländern, in Zypern, im Irak, in Syrien, in Libyen. Gleichzeitig versucht Ankara, Griechenland durch militärischen Druck davon zu „überzeugen“ die Inseln in der Ostägäis zu entwaffnen, um sie anschließend ohne Verluste zu besetzen!

Steuern wir also auf einen griechisch-türkischen Krieg zu? Die Antwort muß leider bejaht werden. Die Gründe dafür sind nicht einfach: Vier davon sind die folgenden: 1. Die Türkei als Land versucht seit dem Tag nach der Unterzeichnung des Lausanner Vertrags (1923), diesen zu brechen, da die Unterzeichnung damals ein anderes Kräfteverhältnis widerspiegelte als heute – ein klassischer Fall einer revisionistischen Macht. 2. Griechenland hat seit 1955 eine Politik verfolgt, die man als absolut beschwichtigend bezeichnen kann. Mit anderen Worten: Viele in der Türkei glauben, daß Griechenland nicht „hart“ auf die Schaffung von vollendeten Tatsachen reagieren wird und daß die türkische Regierung tun könne, was sie wolle. 

3. Die Türkei betrachtet den Krieg in der Ukraine nicht als Bedrohung, sondern als Chance, da in dem neuen internationalen System, das sich herausbildet, Grenzen nun mit Waffengewalt verändert werden können. 4. Die innenpolitische, wirtschaftliche und soziale Situation im Land gleicht einem brodelnden Kessel, in dem die verschiedenen politischen Eliten, insbesondere die von Präsident Erdoğan, um ihre Existenz kämpfen. Wenn man in dieser Situation den archetypischen „Feind“ – nämlich den Griechen – als Besatzer hinstellt, schafft man dadurch eine Verbindung. Das ist es, was die türkischen Politiker derzeit untereinander diskutieren. Dabei wird klar, daß sie ihre Gesellschaft auf eine kriegerische Konfrontation mit Griechenland vorbereiten.

Griechenland verfügt über eine hochmoderne Luftwaffe

Mit der Einführung der neuen Rafale-Kampfflugzeuge, der Modernisierung der F-16-Kampfflugzeuge auf Viper-Niveau und der Erhöhung der Verfügbarkeit von Mirage 2000-5 wird Griechenland in naher Zukunft eine klare qualitative Überlegenheit in der Luft erlangen. Die Flotte dieser 170 Kampfflugzeuge soll durch 20 F-35 ergänzt werden, nachdem Athen einen offiziellen Antrag in Washington gestellt hat. Folglich wird die griechische Luftwaffe allein mit den bestehenden Programmen zur Anschaffung neuer Kampfflugzeuge, zur Modernisierung älterer Kampfflugzeuge und zur Anschaffung der von ihnen getragenen Raketensysteme bis zum Jahr 2030 die stärkste Luftwaffe in Osteuropa und im Mittelmeerraum sein, vergleichbar nur mit der von Israel. 

Europa muß sich für eine der beiden Seiten entscheiden

Wo steht die Türkei angesichts all dessen? Sie versucht, ihre große, aber veraltete Flotte von rund 200 F-16-Kampfflugzeugen zu modernisieren. Und selbst wenn Ankara dies irgendwie gelingen sollte, ist der Zug für die nächsten 10 Jahre in der Luftfahrt dennoch abgefahren. Entsprechende Initiativen Griechenlands bei der Marine und der Landarmee bringen die türkischen Streitkräfte in eine noch schwierigere Lage. Mit anderen Worten: Griechenland hat derzeit mit der Türkei ein quantitatives Gleichgewicht bei den grundlegenden Waffensystemen und in kritischen Bereichen wie den U-Booten sogar ein qualitatives Übergewicht. Für die Zukunft wird erwartet, daß das Gleichgewicht entweder mehr oder weniger stabil bleibt oder sich, wie im Falle der Luftwaffe, entscheidend zugunsten von Athen verändert. Allein aus diesem Grund ist davon auszugehen, daß die Türkei jetzt versuchen wird, beispielsweise einen Regimewechsel auf Zypern zu vollziehen, da dies in zwei bis drei Jahren vielleicht nicht mehr möglich sein könnte.

Ankara glaubt, daß seine Position durch die Ukraine-Krise so gestärkt wurde, daß es dem Westen Veränderungen im Mittelmeerraum aufzwingen kann. In diese Überlegung ist natürlich die Reaktion Griechenlands nicht mit eingerechnet. Die Frage, ob die Griechen auf das Kommende vorbereitet sind, wird nun täglich am Himmel und im Mittelmeer entschieden. Die griechische Geschichte ist voll von Mächten, die versucht haben, die Griechen von den Orten zu vertreiben, an denen sie die letzten 4.000 Jahre gelebt haben. Die Antwort wurde oftmals auf dem Schlachtfeld gegeben. Es geht dabei nicht darum, ob die Griechen ihre Pflicht gegenüber Europa erfüllen werden, sondern darum, ob Europa versteht, was passiert, wenn Griechenland fällt. Man lese nur ein wenig in Geschichtsbüchern ...






Georgios Philis ist Junioprofessor für Internationale Beziehungen am Ledra-College in Nikosia.