© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 30-31/22 / 22. Juli 2022

Grüße aus … Bukarest
Wo der Putz vom Protz fällt
Claus-M. Wolfschlag

Wer mit den Wiederaufbauleistungen auf dem Gebiet der einstigen DDR oder in vielen ehemaligen Ostblock-Ländern vergleicht, dürfte von Bukarest enttäuscht sein. 30 Jahre Marktwirtschaft und 15 Jahre Mitgliedschaft in der EU haben zwar viel bewirkt. Shopping-Malls, Gastro-Szene und die üblichen E-Roller vermitteln den Eindruck einer modernen europäischen Großstadt.

Doch ist das bauliche Erscheinungsbild teils desolat. Viele Innenstadtareale machen immer noch einen maroden Eindruck. Sieht man von mustergültig renovierten Arealen, zum Beispiel am Universitätsplatz, ab, dominiert die Farbe Grau. An fast jeder Ecke blättert es von den Fassaden, tropft es aus Regenrinnen oder sind gar noch Netze als Schutz vor Dachlawinen gespannt.

Kaum ein Bürgersteig ohne gebrochene Gehwegplatten. Selbst an der Mauer um das rumänische Parlamentsareal ist der Stuck weitflächig abgeplatzt. In bester gastronomischer Lage der Altstadt stehen einige Ruinen leer. Fensterscheiben sind zerbrochen, wenn es überhaupt solche noch gibt. Auf einsturzgefährdeten Balkonen wachsen wilde Essigbäume.

Wann die Kathedrale der Erlösung des rumänischen Volkes fertig wird? – „Wenn Gott es möchte.“

„Die Stadt blockiert die Entwicklung“, äußert ein Passant. Ein Gastronom neben einem Ruinenhaus wird konkreter. Nach dem Kommunismus wurden die Häuser Leuten übertragen, die sich als Eigentümer ausgegeben hatten.

Er erwähnt nicht den Verdacht, daß es sich dabei auch um Seilschaften des kommunistischen Geheimdienstes Securitate handeln soll. „Dann tauchten die wahren Eigentümer auf und verlangten die Rückübertragung. Das Gericht verzögert Urteile. Und diese Rechtsstreits führen dazu, daß sich nun schon seit Jahrzehnten nichts bewegt“, sagt er.

Apropos Parlament. Das neoklassizistische Bauwerk war einst eines der Prestigeprojekte des kommunistischen Machthabers Nicolae Ceaușescu. 40.000 Altstadtwohnungen wurden abgerissen, die Bewohner zwangsumgesiedelt für den gewaltigen Bau, eine Prachtallee und angrenzende Wohnblocks im Stil zwischen Stalinbarock und Postmoderne. Heute bestaunen Touristen auf geführten Touren die endlosen Gänge und riesigen Räume mit ihren Marmorsäulen und Edelholzverkleidungen des heute als Parlament dienenden Komplexes.

Gleich dahinter wird derzeit die 120 Meter hohe „Kathedrale der Erlösung des rumänischen Volkes“ errichtet. Die Arbeiten dauern nun schon über zehn Jahre. Der sakrale Kollossus wird von turmhohen Gerüsten eingefaßt. Auf der Baustelle entsteht die größte orthodoxe Kirche der Welt. Bis zu 5.000 Besuchern soll das Gotteshaus  am Ende Platz bieten. Wann es fertig sein wird? „Wenn Gott es möchte“, lautet die lakonische Antwort eines Arbeiters.