© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 30-31/22 / 22. Juli 2022

Atomkraft als letzter Ausweg
Gasmangel: Robert Habeck hält sein eigenes Handeln für „klimapolitisch wirklich erbärmlich“
Paul Leonhard

Die Welt sorgt sich um Deutschland: Griechenland empfiehlt sich Rentnern als Winterdomizil. Insbesondere Kreta sei zu empfehlen, teilte die Regierung in Athen mit. Aus dem sozialistischem Kuba kommt die Anregung, Strom und Gas künftig mittels Staffelpreisen den Kunden in Rechnung zu stellen. Hoher Verbrauch soll so „bestraft“ werden. Auch Stromabschaltungen seien hilfreich. Die Ukraine verspricht nicht nur Atomstrom aus Kraftwerken sowjetischer Bauart, sondern wirbt für seine Gasspeicher. Die Türkei hingegen will das Erdgas, das ab 2023 aus dem Sakarya-Feld im Schwarzen Meer strömt, nur in sein nationales Gasnetz einspeisen.

In einem Entwurf der EU-Kommission für einen europäischen Gas-Notfallplan wurde vorige Woche sogar eine Reduzierung der Temperaturen in Büros und öffentlichen Gebäuden auf maximal 19 Grad vorgeschlagen – wobei die Brüsseler Beamten nicht die Klimaanlagen im Hochsommer meinten, sondern den kommenden Winter. Das wären immerhin sieben Grad mehr, als der rumänische KP-Chef Nicolae Ceaușescu vor 35 Jahren seinen Untertanen verordnete. Der CSU-Europaabgeordneter Markus Ferber schmäht dies als „Aneinanderreihung von Hausfrauentips“. Einen solchen hat auch Klaus Müller, einst grüner Landesminister in Kiel und seit März Chef der Bundesnetzagentur, parat: Die Deutschen sollten genügend Geld zurücklegen und am besten auf einem Sonderkonto parken, um die kommenden Gaspreise bezahlen zu können.

Kriegswirtschaftliche Staatseingriffe durch das Energiesicherungsgesetz?

Einen „Schutzschirm“ für Verbraucher, die sich die hohen Energiepreise nicht mehr leisten könnten, fordert dagegen SPD-Chefin Saskia Esken. Dieser solle garantieren, „daß die Wohnung warm und Energie bezahlbar bleibt“. Nur die Finanzierung dürfte scheitern: Der Bundeshaushalt ist bereits jetzt auf den Rekordwert von 495,8 Milliarden Euro geklettert – 2019 waren es nur 356,8 Milliarden Euro gewesen. Die Regierenden sind daher zu Zugeständnissen bereit. Wirtschaftsminister Robert Habeck will Kohlekraftwerke ins Stromnetz zurückholen, um teueres oder fehlendes Erdgas zu ersetzen. Das sei zwar „klimapolitisch wirklich erbärmlich“, wie er im Interview mit dem „Deutschlandfunk“ gesteht – aber was soll der einstige Grünen-Chef sonst machen?

Politiker von Union, FDP und AfD sind für einen Erhalt der letzten drei deutschen Kernkraftwerke (Emsland, Isar 2 und Neckarwestheim 2). Der bayerische Wirtschaftsminister Hubert Aiwanger drängt sogar auf die Wiederinbetriebnahme des schwäbischen AKW Gundremmingen, das am 31. Dezember 2021 per Bundesgesetz abgeschaltet wurde: „Das brächte ein massives Einsparpotential beim Gasverbrauch, um endlich unsere Gasspeicher für den Winter voll zu machen“, erklärte der Bundesvorsitzende der Freien Wähler (FW) am Montag in der Augsburger Allgemeinen.

Das AKW Isar 2 in Niederbayern könne bis zum August 2023 mit den bestehenden Brennstäben weiterarbeiten, was die Lage im Herbst und Winter beruhigen würde“. Doch die Bundesregierung verhalte sich „wie ein Traumtänzer nach dem Motto, es wird schon gutgehen“. Der 2011 beschlossene Atomausstieg sei keine Hürde, denn „für die Wiederinbetriebnahme der Kohlekraftwerke ist es doch auch möglich, in kurzer Zeit Gesetze zu ändern“, meinte der FW-Chef. Gundremmingen und Isar 2 könnten ein Viertel des bayerischen Strombedarfs abdecken. Und „wenn die Grünen sagen, mit Atomkraft könne man keine Wohnung heizen oder wir hätten kein Stromproblem, sondern ein Gasproblem, dann ist das völliger Unsinn“, sagte Aiwanger. Es gäbe E-Heizungen und Wärmepumpen. Und die Betriebe bräuchten die Rechtssicherheit, „ob sie moderne Gasanlagen auf für Notfälle vorhandene alte Ölanlagen umstellen dürfen“.

Ein Ausscheren aus den Rußland-Sanktionen ist für die Ampel-Parteien wie für die Union und Freie Wähler– anders als für AfD und Linke – ein absolutes Tabu. Zwar hätten auch „einige europäische Staats- und Regierungschefs“ ihm gesagt, „die Sanktionen seien ein Fehler“, beklagte der EU-Außenbeauftragte Josep Borrell am Montag in Brüssel. Doch außer dem ungarischen Premier Viktor Orbán sagt das niemand öffentlich in eine Kamera. Daher wird mit Spannung auf die Tage nach dem 21. Juli geblickt – dem Ende der planmäßigen Wartungsarbeiten an der Ostseepipeline Nord Stream 1. Fließt dann wieder russisches Erdgas nach Deutschland und Mitteleuropa?

An der fehlenden Siemens-Turbine kann es nicht mehr liegen, die hat die kanadische Regierung freigegeben. Kommt nichts mehr in Lubmin bei Greifswald an, dann droht die dritte und höchste Stufe des deutschen Notfallplanes Gas. Bei der im März ausgerufenen Frühwarnstufe hatte die Bundesregierung noch versichert, daß private Haushalte weiterhin beliefert würden, nur Teile der Industrie müßten mit Engpässen rechnen.

Mit der im Juni verkündeten Alarmstufe klingelten dann die Alarmglocken. In der Notfallstufe darf der Staat in den Markt und die Gasversorgung massiv eingreifen. Paragraph 24 des Energiesicherungsgesetzes sieht vor, daß die Versorger die gestiegenen Beschaffungspreise eins zu ein an die Haushalte weitergeben können. Paragraph 26 sieht einen Umlagemechanismus der höheren Gaspreise auf alle Verbraucher vor. Die Priorisierung der Gaszuteilung für private Verbraucher ist obsolet. Diese mache nur „Sinn bei einer kurzfristigen Störung“, so Habeck. Auch private Kunden müßten dann ihren Beitrag leisten.

„Industriebetriebe müssen vorrangig Gas erhalten“

Die FAZ sorgte für publizistischen Flankenschutz: Die steigenden Gaspreise hätten nämlich einen „wichtigen Vorteil für die Energieversorgung: Die Teuerung bringt den Anreiz mit sich, mit diesem knappen Gut sparsam umzugehen, wo immer das möglich ist. Mitunter lohnen sich dann auch Investitionen in Alternativen, vor denen vorher aus Kostengründen zurückgeschreckt wurde“, schrieb Wirtschaftsredakteur Jan Hauser. Die Angst der Regierung vor Massenprotesten frierender Bürger halten Journalisten, anders als Innenministerin Nancy Faeser, offenbar für übertrieben – in der Corona-Pandemie ist es ja auch weitgehend ruhig geblieben.

Stefan Wolf, Präsident des Arbeitgeberverbands Gesamtmetall, träumt hingegen nicht von „mehr Antrieb durch erneuerbare Energien“, sondern er sorgt sich um das Hier und Jetzt: Die Industriebetriebe müßten auch während der etwaigen Notfallstufe 3 „vorrangig Gas erhalten, wenn ihr Bestand oder ihre Produktionsanlagen akut gefährdet sind oder sich infolge der Lieferketten massive Produktionsausfälle über den Betrieb hinaus ergeben würden“, verlangte der Chef des Automobilzulieferers ElringKlinger vorige Woche in einem Gespräch mit der Funke-Mediengruppe.

Aktuelle Lage der Gasversorgung in Deutschland: www.bundesnetzagentur.de