© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 30-31/22 / 22. Juli 2022

Stau auf den Meeren
Welthandel: Containerschiffe warten nicht nur in der Nordsee / Deutsche Häfen in Schräglage / Normalisierung in Amerika
Martin Krüger

Innerhalb eines Jahres kletterte die Inflationsrate von 2,3 auf 7,6 Prozent. Und wenn der Tankrabatt im September ausläuft und 2023 die Heizabrechnungen fällig werden, könnten die Statistiker sogar eine zweistellige Geldentwertung ausweisen. Daher „haben wir eine Reallohnerhöhung für alle Beschäftigten auf zwölf Monate gefordert“, erklärte Maya Schwiegershausen-Güth, Verdi-Verhandlungsführerin im Tarifkonflikt mit dem Seehafenverband ZDS. Die DGB-Gewerkschaft verlangt für die 12.000 Tarifbeschäftigten 1,20 Euro mehr pro Stunde sowie einen „tatsächlichen Inflationsausgleich in Höhe von 7,4 Prozent“ sowie die Erhöhung der jährlichen Zulage für Vollcontainerbetriebe um 1.200 Euro.

Doch der 48stündige Warnstreik vergangene Woche kam zur Unzeit: Weiter warten Dutzende Frachter und Containerschiffe auf den Ankerplätzen in der Deutschen Bucht auf Abfertigung nach Bremerhaven oder Hamburg. Damit könnte sich der Schiffsstau auf der Nordsee erneut verschärfen. „Die Staus von Containerschiffen in der Nordsee halten an und sind in der Tendenz steigend, über zwei Prozent der globalen Frachtkapazität stehen dort still und können weder be- noch entladen werden“, beklagte der „Kiel Trade Indicator“ des Instituts für Weltwirtschaft (IfW) im Juni. Auch vor Shanghai und der chinesischen Küstenprovinz Zhejiang stecken über vier Prozent der weltweiten Handelsflotte in der Warteschlange.

„Ein Ende der Staus in der Containerschiffahrt ist derzeit nicht in Sicht“, prognostizierte IfW-Ökonom Vincent Stamer. Für die Nordsee sei das ungewöhnlich: „Für Deutschland und die EU beeinträchtigt dies vor allem den Überseehandel, speziell mit Asien, woher etwa Unterhaltungselektronik, Möbel oder Textilien geliefert werden.“ Laut der Hamburger Hafen und Logistik AG (HHLA) liegt eine der Ursachen in der schleppenden Abholung von Importcontainern. Dadurch seien alle Stellplätze belegt. Üblicherweise verbleibt ein Container drei Tage im Lager. Dann wird er weitertransportiert. Die Häfen sind mit der Zahl ankommender Schiffe schlicht überfordert.

Der Weitertransport der Waren wird zusätzlich behindert, da viele Güterzüge für Lieferungen in die Ukraine reserviert sind. Zudem fehlen Lageristen, Lkw-Fahrer und Zugführer. Dies erschwert die operativen Hafenabläufe zusätzlich. Und nach dem Ende der Corona-Lockdowns in China könnte die nächste große Containerwelle hereinbrechen: Derzeit sind laut IfW auf dem Roten Meer, der wichtigsten Handelsroute zwischen Europa und Asien, etwa 20 Prozent weniger Containerschiffe unterwegs, als unter normalen Umständen zu erwarten wären.

Seit Juli behält sich der Terminalbetreiber HHLA das Recht vor, Importcontainer mit einer Zusatzgebühr von 50 Euro pro Kalendertag zu belegen. Container, die auch zehn Tage nach Entladung noch nicht abgeholt wurden, können für weitere 300 Euro auf eine bewachte Extra-Fläche verfrachtet werden. Wer seinen Container dann von dort abholen möchte, kann dies nur per Lkw und auch nur mit drei Tagen Vorankündigungsfrist vornehmen. Die HHLA fordert daher, das Lkw-Sonntagsfahrverbot befristet aufzuheben, um den Abtransport flexibler gestalten zu können. Manche vermuten aber auch, daß einige Importeure ihre Container gar nicht mehr abholen möchten, wenn sich darin verspätet eingetroffene Saisonwaren befinden.

Für die Transportflotten ist der anhaltende Rückstau ungesund

Andere wiederum versuchen, ihre Schiffe während der Überfahrt noch auf andere Häfen umzuleiten. Ein solcher Wechsel bringt aber viel Aufwand und Bürokratie. Denn Hafenslots müssen neu verhandelt, Lagerplätze neu geplant, Lastwagen bestellt und Arbeiter informiert werden. Das kostet Geld, aber es kann dem Endkunden sogar eine vorzeitige Lieferung ermöglichen. Die Lage in Nordamerika hat sich hingegen entspannt: „Die pandemiebedingt hohe Nachfrage nach Konsumgütern in den USA hat nachgelassen, der Stau vor dem Hafen von Los Angeles hat sich aufgelöst“, berichtet IfW-Handelsexperte Stamer. „Das entlastet die Transportwege, und so sind die Frachtkosten von Asien an die Westküste Nordamerikas seit Beginn dieses Jahres um knapp die Hälfte gefallen. Frachtraten auf dem Weg von Asien nach Nordeuropa sind dagegen noch immer sechsmal so hoch wie vor zwei Jahren.“

Und der Stau vor der deutschen und chinesischen Küste sorgt für ein weiteres Problem: Die heutigen Containerschiffe sind nicht mehr dafür gebaut, daß sie lange auf einer Stelle warten müssen. Am Rumpf setzen sich bereits nach einigen Tagen Algen an, die dem Schutzanstrich zusetzen; das salzige Seewasser zersetzt metallische Teile. Dadurch müssen die Schiffe regelmäßig überprüft werden und gegebenenfalls aufwendig gereinigt werden. Und wenn der teure Frachtraum nicht genutzt werden kann, jagt das die Kosten bei den Reedern in die Höhe. Die Staumelder und die ausgefeilte Logistiksoftware der Schiffahrtexperten können da nur bedingt weiterhelfen.

 www.ifw-kiel.de

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