© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 30-31/22 / 22. Juli 2022

Orgien der Gewalt
Wenn der Strom ausfällt: Was dann passiert, zeigen Blackouts in New York 1977 und in Indien 2012 / Deutsche Katastrophenschützer entwerfen ein schlimmes Szenario: „Größte Risiken für unser Land“
Thomas Schäfer

Es war gar nicht Weihnachten. Doch die Marodeure, die in der Nacht vom 13. zum 14. Juli 1977 bei fast völliger Dunkelheit plündernd durch die brütend heißen Straßen von New York City zogen, jubelten: „Es ist Weihnachten!“ Kurz zuvor hatten drei Blitzeinschläge in Folge dafür gesorgt, daß das antiquierte Netz des städtischen Stromversorgers Consolidated Edison sukzessive kollabierte, bis es dann um 21.37 Uhr zum totalen Blackout kam. Neun Millionen Menschen standen in der bevölkerungsreichsten Metropole der Vereinigten Staaten ohne Strom da.

Dem folgte eine Orgie der Gewalt, die in den Ghettos der Latinos und Schwarzen begann und am Ende 31 Stadtteile erfaßte, während in der vornehmen Upper East Side fröhliche Partys im Freien stattfanden und in Little Italy die Mafia für Ordnung sorgte. In Brooklyn, Manhattan, Harlem, Crown Heights, Bushwick sowie der Bronx und anderswo rückten die Bewohner zum Teil mit Schubkarren oder Einkaufswagen an und demolierten die Geschäfte, wonach sie mitnahmen, was nicht niet- und nagelfest war – vom fabrikneuen Pontiac im Autohaus bis hin zur Windel aus dem Supermarkt. Im besonders multiethnisch geprägten Bedford-Stuyvesant verhafteten einige der 8.000 eingesetzten Polizisten sogar einen Mann, der 300 Stöpsel für Spülbecken „erbeutet“ hatte.

Außerdem setzten die Horden zahlreiche Läden und Häuser in Brand. Besonders viele Feuer loderten in Bushwick, wo die Feuerwehr zeitweise die Kontrolle verlor. „Dies ist die Nacht der Tiere“, kommentierte ein Polizist das Geschehen. Allerdings wuchsen auch viele New Yorker über sich hinaus. Wie das Personal im Bellevue Hospital von Manhattan, das nach dem Ausfall der Notstromaggregate die Intensivpatienten manuell beatmete, oder all die Rettungskräfte, welche Menschen aus liegengebliebenen U-Bahnwaggons und den Aufzügen der Hochhäuser befreiten.

Der Stromausfall endete am Abend des 14. Juli. Um 22.39 Uhr hatte ganz New York wieder Elektrizität. Obwohl der Blackout also letztlich nur 25 Stunden gedauert hatte, war seine Bilanz nachgerade verheerend: 1.616 geplünderte Geschäfte, 1.037 absichtlich gelegte Brände, 3.776 Verhaftungen, 747 Verletzte, darunter 463 Polizisten und 80 Feuerwehrleute, und drei Tote. Zwei der Opfer starben in den Flammen; darüber hinaus wurde das Gangmitglied Dominick Ciscone von niemals ermittelten Tätern erschossen. Der Sachschaden betrug nach heutigem Geldwert an die 1,3 Milliarden Dollar.

Die Inder bewahrten die Ruhe, viele hatten keinen Stromanschluß

Neben diesem inzwischen legendären Blackout vor 45 Jahren kam es in der Vergangenheit noch zu zahlreichen weiteren längeren und teilweise auch sehr großflächigen Stromausfällen. Zwei besonders spektakuläre derartige Ereignisse geschahen erst in jüngerer Zeit, und zwar vor genau zehn Jahren in der Republik Indien.

Zuerst kollabierte das Netz am 30. Juli 2012 wegen des zu hohen Stromverbrauchs in einigen Regionen des Landes. 400 Millionen Inder wurden stundenlang von der Versorgung abgeschnitten. Dann gab es am 31. Juli um 13.02 Uhr ein Relaisproblem unweit des weltberühmten Taj Mahal. Infolge der dadurch ausgelösten Kettenreaktion blieben 22 der 28 indischen Bundesstaaten beziehungsweise 620 Millionen Einwohner derselben bis gegen 20.30 Uhr ohne Strom. Somit handelte es sich hier um den größten Blackout aller Zeiten, der rund neun Prozent der damaligen Weltbevölkerung betraf.

Dabei bewahrten die Inder ungleich mehr Ruhe als die New Yorker – lediglich in der Stadt Gurgaon unweit von Delhi wurden einige Beamte des örtlichen Energieversorgers aus Frustration verprügelt. Diese weitgehende Gelassenheit resultierte aus der extremen Häufigkeit von kleineren Stromausfällen, die bereits für reichlich Gewöhnung gesorgt hatten. Außerdem besaß ein Drittel der indischen Haushalte damals noch gar keinen Stromanschluß, womit sich der soziale Sprengstoff in Grenzen hielt – zumal der Blackout auch vor Einbruch der Dunkelheit endete.

So wie in New York und Indien dauerten sämtliche große Stromausfälle bislang immer nur wenige Stunden oder ein bis zwei Tage. Dabei ist jedoch auch Schlimmeres möglich. Um die Kraftwerke nach einem Blackout wieder hochzufahren, braucht es ebenfalls Strom. Den müssen diejenigen Energieerzeuger liefern, deren Turbinen beispielsweise durch Wasser aus Speicherbecken angetrieben werden. Bei solchen sogenannten Schwarzstarts ohne Strom drohen indes mannigfache technische Probleme und damit erneute Netzzusammenbrüche. Zumal im Anschluß an einen Blackout der Verbrauch anfangs bis zu viermal höher liegt als im Normalfall, da ein erheblicher Nachholbedarf auf seiten der Abnehmer besteht.

Vieh verendet in seinen Ställen, Polizei kann nicht mehr ausrücken

Deshalb könnte der Strom im Prinzip auch einmal für vier bis sechs Wochen ausfallen, so die Warnung des langjährigen Präsidenten der deutschen Zivil- und Katastrophenschutzorganisation Bundesanstalt Technisches Hilfswerk (THW) und nunmehrigen Vorstandsvorsitzenden des Zukunftsforums Öffentliche Sicherheit (ZOES), Albrecht Broemme.

Was in einem solchen Fall zu erwarten wäre, haben unter anderem der Gesamtverband der Deutschen Versicherungswirtschaft (GDV) und das Büro für Technikfolgen-Abschätzung beim Deutschen Bundestag (TAB) beschrieben: Unmittelbar nach dem Stromausfall kommt es wegen des Ausfalls der Ampeln und aller elektrisch betriebenen Bahnen zu einem riesigen Verkehrschaos, Menschen stecken zu Tausenden in Aufzügen oder anderswo fest, Tankstellen schließen aufgrund des Stillstands der Treibstoffpumpen, Hamsterkäufe in den Supermärkten sind ebenfalls unmöglich, da die elektronischen Kassen den Dienst verweigern, und schließlich kollabiert auch noch das Telefonnetz.

Am Tag zwei ersticken dann viele Nutztiere wegen der fehlenden Lüftung in ihren Ställen, und die Trinkwasserversorgung bricht zusammen, weil die Hochbehälter nun leergelaufen sind und keine Möglichkeit zum Wiederauffüllen besteht. Ebenso geben jetzt die ersten Notstromaggregate von Krankenhäusern und anderen wichtigen Einrichtungen aus Treibstoffmangel den Geist auf. Am Tag darauf brennt es zunehmend öfter, denn die Leute versuchen vermehrt, auf offenem Feuer zu kochen. Doch die Feuerwehr leidet ebenso wie die Polizei und der Rettungsdienst unter einem Defizit an Sprit, kann also nur noch begrenzt ausrücken. Spätestens am Tag vier nehmen die Überfälle und Plünderungen zu, da sich nun verstärkt Hunger und Durst breitmachen.

In den Krankenhäusern und Altenheimen herrschen mittlerweile katastrophale Zustände. Es fehlen Medikamente, Blutkonserven und auch etliche Mitarbeiter. Deshalb gibt es jetzt immer mehr Tote. Am Tag fünf läßt die Regierung die vorhandenen Notreserven an die Bevölkerung verteilen, ohne daß dies aber zu einer Entspannung der Lage führt. Vielmehr nehmen die Verteilungskämpfe weiter zu. Am sechsten Tag fallen auch die letzten Radiosender aus, wodurch sich das allgemeine Durcheinander verstärkt. Nach einer Woche sind Überfälle und Gewalt an der Tagesordnung, aber die Sicherheitskräfte werfen inzwischen meist das Handtuch. Zum einen können sie sowieso nur noch zu Fuß ausrücken, zum anderen nutzen sie ihre letzten verbliebenen Ressourcen lieber für den Schutz der eigenen Person oder Familie. Ab jetzt ist sich weitgehend jeder selbst der Nächste.

Wenn es in Deutschland zu einem Blackout von mehreren Wochen kommen würde, hätte dies also apokalyptische Zustände und den Tod unzähliger Menschen zur Folge – nicht zuletzt deshalb, weil fast niemand ernsthafte Vorbereitungen für ein derartiges Ereignis getroffen hat, wie neben Broemme auch der Abteilungsleiter für Risikomanagement im Bundesamt für Bevölkerungsschutz und Katastrophenhilfe (BBK), Wolfram Geier, scharf kritisiert: „Ein Blackout gehört aktuell zu den größten Risiken für unser Land“, aber „die Mehrheit der Gesellschaft tut nichts.“ Schlimmer als diese Ignoranz ist allerdings die hierzulande verfolgte Energiepolitik einzustufen: Sie nimmt lange Blackouts in Kauf, indem sie die Sicherheit der Stromversorgung aus ideologischen Gründen untergräbt und das Netz zugleich im Zuge der angeblichen „Energiewende“ einem hochriskanten Streßtest nach dem anderen unterzieht.

Das Zukunftsforum Öffentliche Sicherheit über die Folgen eines langanhaltenden Stromausfalls:  https://zoes-bund.de

Fotos: Plünderungen nach Stromausfall in New York 1977: Latinos und Schwarze begannen mit dem Marodieren. Die Orgie der Habgier griff schließlich in 31 Stadtteilen um sich, über tausend Brände wurden absichtlich gelegt, drei Menschen starben durch Flammen und Schüsse; Nicht weiterkommende Inder vertreiben sich die Zeit mit Kartenspielen, während sie am 31. Juli 2012 in einem Bahnhof in Kalkutta auf die Wiederherstellung der Stromversorgung warten: Indien erlebte vor zehn Jahren den größten Stromausfall aller Zeiten. Er betraf neun Prozent der damaligen Weltbevölkerung