© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 30-31/22 / 22. Juli 2022

Europäische Tradition des Widerstands gegen Brüssel
Deutungsoffene Meinungsumfragen
(dg)

Dreißig Jahre vor dem Austritt Großbritanniens aus der EU stellte der portugiesische Nobelpreisträger für Literatur José Saramago ein vergleichbares Ereignis vor Augen. In seinem 1986 publizierten Roman „Das steinerne Floß“ bricht die Iberische Halbinsel vom Kontinent ab und wird hinaus in den Atlantik gespült. Der Text manifestiert für den Historiker Philipp Müller (Hamburger Institut für Sozialforschung) Saramagos von vielen Landsleuten geteilte Skepsis gegenüber Brüssel. Portugal und auch Spanien, so stelle es sich aus Sicht von Saramagos linker „Gegenerzählung“ dar, drohten durch die bevorstehende Aufnahme in die damalige Europäische Gemeinschaft zu einer semiperipheren Provinz des europäischen Kapitalismus herabzusinken und ihre nationale Identität zu verlieren. Die iberischen Eliten propagierten den Beitritt indes als entscheidenden Schritt zur Modernisierung.  Saramagos literarischer Einspruch dokumentiere, daß Zweifel und Widerstand gegen die „europäische Einigung“ nicht jüngeren Datums seien, sondern nach der europäischen Finanzkrise, der Invasion von „Flüchtlingen“ und dem Brexit nur mehr und mehr zurück ins Zentrum öffentlicher Aufmerksamkeit gelangten. Daß sich die Integration jedoch vor und nach der Zäsur von Maastricht (1993) stets „auf dünnem Eis“ bewegte, hätten Meinungsumfragen lange verschleiern können. Die wiesen bis heute proeuropäische Mehrheiten in den meisten Mitgliedsländern auf. Kein Wunder, denn sie seien so „deutungsoffen“ formuliert, daß die Befragten nichts weiter als ihre Zustimmung zu einem abstrakten vorgestellten Einigungsprozeß signalisieren müssen (Mittelweg 36, 1/2022). 


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