© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 30-31/22 / 22. Juli 2022

Die Herrschaft der Hallodris
Elitenverlust: Eine Nachbetrachtung zum Scheitern des Hitler-Attentats vom 20. Juli
Thorsten Hinz

Die Problemberg ist riesig und wird täglich höher, doch regiert wird das Land von politischen Pygmäen. Noch nie in der Geschichte der Bundesrepublik war die Kluft zwischen der Forderung des Tages und dem Format des tonangebenden Personals – von einer Elite kann man wirklich nicht sprechen – so groß wie jetzt. Das Miniaturformat betrifft auch das moralische und kulturelle Niveau: Dieselben Leute, die das Land zielsicher an die Wand fahren und auf dem Weg dorthin sogar die Energiesicherheit sabotiert haben, so daß 77 Jahre nach Ende des Zweiten Weltkriegs über öffentliche Wärmestuben gesprochen wird, feiern sich auf Sylt im Stil von Bunte und Goldenes Blatt. „Kleinbürgerlicher Kitsch“, wie die gute Alice Schwarzer treffend schrieb. Man braucht dieses neofeudale Parvenü-Milieu gar nicht ausdrücklich verächtlich zu machen, man muß es nur präzise in den Blick nehmen und entsprechend beschreiben. 

Der Niedergang der Bundesrepublik und das defizitäre Niveau ihrer Führungsschichten sind zwei Seiten derselben Medaille. Beides hat auch mit dem Scheitern des Attentats vom 20. Juli 1944 zu tun. Die Hinrichtungswelle, die ihm folgte, vernichtete die „potentielle politische Elite des nachhitleristischen Deutschland“. So Sebastian Haffner 1947. Es war eine preußisch geprägte Führungsschicht, obwohl längst nicht alle, die ihr angehörten, Preußen waren. Geeint war sie durch einen gemeinsamen Macht- und Stilwillen.

Man braucht sie deswegen nicht zu idealisieren. Ihre Fehler, ihr historisches Versagen gar, sind hin- und hergewendet worden. Die meisten haben Hitler, den Plebejer, von Anfang an herzlich verachtet, aber sie haben ihn nicht verhindert. Nicht wenige haben ihm sogar ihr Wissen und ihr Talent zur Verfügung gestellt. Noch die Männer des 20. Juli unterlagen Fehleinschätzungen. Die Vorstellungen, die der als Reichskanzler vorgesehene Carl Goerdeler vom künftigen Deutschland hatte – das Reich in den Grenzen von 1914 plus Österreich und das Sudetenland – waren Traumtänzerei. Die bedingungslose Kapitulation wäre Deutschland auch nach einem erfolgreichen Attentat nicht erspart geblieben. Aber enorme intellektuelle, moralische und politische Ressourcen wären gerettet worden. Noch immer beeindrucken der Kenntnisreichtum und der Scharfsinn in den Konzeptpapieren zum Wiederaufbau, die Goerdeler im Gefängnis verfaßte, in den Wochen zwischen dem Todesurteil und der Hinrichtung.

Alliierte stellten deutschen Patriotismus unter Verdacht

Adam von Trott zu Solz war ein hochbegabter, weltläufiger, mit sicherer Urteilskraft ausgestatteter Außenpolitiker, dessen hochriskante Fühlungnahmen während des Krieges an britischer Intransigenz scheiterten – was seine britischen Freunde später tief bereuten. Den Tod vor Augen, bekannte er seinen Schmerz darüber, seine Kenntnisse und Verbindungen einem Nachkriegsdeutschland nicht mehr zur Verfügung stellen zu können. 

Der Literaturwissenschaftler Karl Heinz Bohrer zitierte 2013 in seiner Gedenkrede zum 20. Juli aus einer Stellungnahme des britischen Foreign Office, die kurz nach dem Attentat 1944 kursierte und in der es unter anderem hieß: „Die gegenwärtige Verhaftungswelle wird zur Entfernung zahlreicher Individuen führen, die uns hätten Schwierigkeiten bereiten können (…) Gestapo und SS leisten uns einen hoch einzuschätzenden Dienst durch die Beseitigung aller jener, die nach dem Krieg zweifellos als ‘gute Deutsche’ posiert hätten.“ Ein jeglicher deutscher Patriotismus, so Bohrer weiter, sei von den Alliierten unter „absoluten Verdacht“ gestellt worden. Was schon Marion Gräfin Dönhoff, Joachim Fest oder Richard von Weizsäcker in ihren Texten zum 20. Juli andeuteten, aber nicht konsequent ausführten, weil es der bundesdeutschen Staats- und Bündnisräson widersprach, hat der langjährige Bundestagspräsident Eugen Gerstenmaier, der selber vor dem Volksgerichtshof gestanden hatte und dem Todesurteil nur um Haaresbreite entgangen war, nachträglich auf den Punkt gebracht: Daß der Krieg nicht nur gegen Hitler, sondern gegen Deutschland geführt wurde. Ohne Kopf, so die Machtkalkulation der Kriegsgegner, würde das besiegte deutsche Huhn leichter zu zerlegen sein. Und wenn die Nazis die Enthauptung übernahmen – um so besser.

Mit dem Scheitern des Attentats und der Hinrichtung seiner Akteure ist aber noch viel mehr verlorengegangen als wertvolle menschliche Substanz und Sachkompetenz. Im Vorfeld des 20. Juli 1944 hatten Militärs, Zivilisten, Adlige, Gewerkschafter, Nationalkonservative, Liberale, Christen, Sozialisten sich zusammengetan, um sich unter Todesgefahr als Citoyens, als verantwortungsvolle Staatsbürger zu bewähren. „Der Citoyen ist ein höchst politisches Wesen, das nicht sein individuelles Interesse, sondern das gemeinsame Interesse ausdrückt. Dieses gemeinsame Interesse beschränkt sich nicht auf die Summe der einzelnen Willensäußerungen, sondern geht über sie hinaus“, heißt es bei dem Aufklärer Jean-Jacques Rousseau.

Das über die Akteure hinausgehende Ziel waren der Erhalt und die gleichberechtigte Weiterexistenz Deutschlands als Staat und Nation. Ein gelungenes Attentat mit anschließender erfolgreicher Machtübernahme durch die Aufständischen hätte die Nation und den Staat gegen Hitler wieder in ihr Recht eingesetzt. Dieses moralische Kapital hätte die Kapitulation und auch die Besatzung und Teilung überdauert und die geistig-moralische Selbstbehauptung vor sich und der Welt möglich gemacht.

Wie das im Einzelfall aussehen konnte, demonstrierte Konrad Adenauer bei seinem Besuch in Moskau 1955. Die sowjetische Führung, berichtet er in seinen Memoiren, habe die deutsche Delegation zunächst mit Faschismus-Vorwürfen überschüttet. Der Kanzler, der in den 20. Juli zwar nicht involviert, aber als NS-Gegner bekannt gewesen und in der Folge gleichfalls inhaftiert worden war, konterte mit der Frage, wer denn mit Hitler einen Pakt geschlossen habe. Er jedenfalls sei es nicht gewesen! Worauf die Sowjetführer erstarrten, untereinander Blicke tauschten und das Gespräch im freundlichen Ton fortsetzten.

Es gab noch mehr von seiner Sorte – Gerstenmaier, Heuss, Schumacher, Brandt und andere –, aber sie waren zu wenige, um eine Schule, eine Tradition, ein Staatsethos fortzusetzen oder zu begründen, die kraftvoll genug gewesen wären, um der Umerziehung, den Siegernarrativen, dem unter transatlantischer Ägide stattfindenden Elite-Austausch und der schleichenden Wirkung der Frankfurter Schule zu widerstehen.

Die Avantgarde der antinationalen Kulturrevolution sind die Grünen

Eben diese Einflüsse blockierten den Ersatz der 1944/45 am Galgen verendeten Elite, den Sebastian Haffner 1947 noch grundsätzlich für möglich gehalten hatte, auch wenn er sich „langsam und schwer“ vollziehen würde. An ihre Stelle sind mittlerweile Hallodris getreten, die als Hyper-Citoyens daherkommen und tief im Herzen verinnerlicht haben, daß die Citoyens vom 20. Juli nicht einfach bloß tragisch, sondern gewissermaßen auch verdient und erfreulicherweise scheiterten, weil sie ebenfalls falschen Vorstellungen von Vaterland, Kultur, Geschichte, Heimat und Geographie anhingen. Für sie ist der wirkliche Citoyen der antinationale Revolutionär, der dies alles abräumt und umdeutet. Die Avantgarde dieser Kulturrevolution sind die Grünen als das originäre Parteienprodukt der Bundesrepublik. Sie transzendieren heute das gesamte politische und gesellschaftliche Leben.

Als politische Klasse möchte man, was auf diese Weise entstanden ist, nicht bezeichnen, denn das Wort „Klasse“ ist mehrdeutig und kann auch eine gehobene Qualität bezeichnen. Es sind keine Nennenswerten, die jetzt den Ton angeben, nennenswert schon gar nicht im Zusammenhang mit den oben Genannten. Der Blick auf die Gegenwart verrät, daß der bittere Kelch des gescheiterten 20. Juli für Deutschland noch längst nicht ausgeleert ist.

Wenigstens auf Sylt trank man Champagner.