© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 30-31/22 / 22. Juli 2022

Zeitschriftenkritik: Mare
Maritime Geschichten
Thorsten Thaler

Jahrhundertelang war Korsika, die Île de Beauté (Insel der Schönheit) im Mittelmeer, zwischen diversen regionalen Seemächten umkämpft. Wenig bekannt jedoch ist, daß sie Mitte des 18. Jahrhunderts für wenige Monate ein eigenes Königreich war: Im April 1736 krönen korsische Stammesführer den aus westfälischem Adel stammenden Baron Theodor von Neuhoff im Franziskanerkloster Alesani zum Regenten der Insel. Er organisiert Geld und Waffen für die Freiheitskämpfer, vereinfacht das Zoll- und Steuersystem, läßt eigene Münzen prägen. Doch Neuhoff ist seinem Naturell nach auch ein ziemlich windiger Zeitgenosse, ein Abenteurer und Hochstapler. Er betrügt, stiehlt und fälscht, betätigt sich als Geheimagent, hat Liebesaffären und Spielschulden, muß immer wieder vor Geldgebern fliehen. Spätere Historiker rekonstruieren das kurvenreiche Leben des einzigen Monarchen von Korsika vor allem aus Klageschriften, Prozeßakten und Fahndungsaufrufen, schreibt der Journalist und Schriftsteller Cay Rademacher in der aktuellen Ausgabe der Zeitschrift mare. Im Zuge einer blutigen Auseinandersetzung mit einem mächtigen Clanführer der Insel flüchtet Neuhoff im November 1736 schließlich vor seinen Häschern erst in die Toskana, dann weiter über die Alpen. Zwanzig Jahre später stirbt er veramt in London.

Ein weitere Beitrag zum Themenschwerpunkt „Korsika“ berichtet von der einst größten Asbestmine Europas am Cape Corse im Norden der Insel. Heute eine gewaltige Betonruine auf den steil ins Meer abfallenden Felsen, war sie in der unmittelbaren Nachkriegszeit für zwei Jahrzehnte der „Stolz“ der korsischen Industrie und „Quelle eines Reichtums, den die ewig arme Insel nie zuvor kannte“. 1965 wurde sie geschlossen, seither gilt sie als Mahnmal „für den industriellen Fortschritt und für die unheilbaren Schäden, die er anzurichten in der Lage ist“.

Der Politikteil des Magazins widmet sich Polens maritimer Geschichte und geht dabei der Frage nach, wie sich das Land bis Ende dieses Jahres von Öl, Gas und Kohle aus Rußland unabhängig machen will. Außerdem enthält das Heft einen Essay über Schiffswracks als Phänomene „unserer eigenen Vergänglichkeit“ sowie eine neuentdeckte Kurzgeschichte von Ernest Hemingway. Die Erzählung „Streben nach Glück“ handelt vom Fischen vor Kubas Küste. Sie erschien erstmals 2020 im New Yorker, für den Mare-Verlag hat sie der vielfach ausgezeichnete Hemingway-Übersetzer Werner Schmitz ins Deutsche übertragen. In einem beigestellten Interview berichtet der Enkel des Literaturnobelpreisträgers, Sean Hemingway, wie er das Manuskript seines Großvaters entdeckte und erzählt von dessen Liebe zum Meer.

Kontakt: Mareverlag GmbH & Co. oHG, Pickhuben 2, 20457 Hamburg. Tel.: 040 / 36 98 59-0. Das Einzelheft kostet 12 Euro, ein Jahresabonnement 60 Euro.

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