© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 30-31/22 / 22. Juli 2022

„Völlig verdreht“
Kino: „Der Sommer mit Anaïs“ kommt als leichte Komödie daher, funktioniert aber auch als Porträt einer kaputten Generation
Dietmar Mehrens

Jedes Zeitalter bringt Kunstwerke hervor, die es charakterisieren. „Der Sommer mit Anaïs“ von Charline Bourgeois-Tacquet ist dafür ein anschauliches Beispiel. Die Hauptfigur des Films, die flippige Anaïs (Anaïs Demoustier) ist ein typisches Kind ihrer Zeit, einer Zeit der Bindungs- und Verantwortungslosigkeit, geprägt von grenzenlosem Hedonismus, der in der Negation der Familie als gesellschaftlicher Grundkonstante seinen treffendsten Ausdruck findet. Genau diesen Hedonismus bezeichnet die 30jährige Doktorandin in einem Gespräch mit ihrer Mentorin, der Schriftstellerin Émilie (Valeria Bruni Tedeschi), folgerichtig als Eroberung, als Errungenschaft, die man zu schätzen wissen sollte. Kurz darauf finden sich Anaïs und Émilie in einer geheimen Kammer voller pornographischer Darstellungen wieder – und kommen sich näher. Besser kann man die Fundamente, auf denen im Regenbogen-Zeitalter Glück geschmiedet werden soll, kaum ins Bild setzen. 

Als sich die ersten Konturen einer homoerotischen Liaison zwischen den beiden Frauen abzeichnen und das Regenbogen-Gemälde sich seiner Vollendung nähert, ist „Der Sommer mit Anaïs“ aber schon fast zu Ende. Charline Bourgeois-Tacquet, die ihr eigenes Drehbuch verfilmte, nimmt sich vor dem emotionalen Höhepunkt ihres Films viel Zeit, um ihre junge, vor Lebensenergie sprühende Heldin zu porträtieren. Und jeder kann aus dem, was ihm hier vorgeführt wird, seine eigenen Schlüsse ziehen. 

Die 30jährige entscheidet sich für eine Abtreibung

Anaïs ist zwar attraktiv, sinnlich, verführerisch und dadurch zweifellos vom Schicksal begünstigt, aber auch auf geradezu rührende Weise unbedarft. Viel gebacken bekommt die impulsive Frau jedenfalls nicht. Die Krebserkrankung ihrer Mutter überfordert sie, weil in ihrem persönlichen Koordinatensystem nur für Lebensgenuß Platz ist und keiner für die Schattenseiten des Daseins. Sie bekommt das Geld für die Miete nicht zusammen. Ihre Dissertation über Liebesliteratur im 17. Jahrhundert stockt, ebenso die Beziehung zu ihrem Freund Raoul (Christophe Montenez). Daß sie von ihm schwanger ist, läßt sie eher beiläufig fallen. „Ich bin wohl hyperfruchtbar – zum Kotzen!“ kommentiert sie zu Raouls Entsetzen das Wunder des werdenden Lebens in ihr. Aber er solle sich nicht sorgen, sie werde sich „operieren“ lassen. Für Anaïs ist klar: „Ich will keine Kinder!“ In die Abtreibungsklinik tänzelt sie amüsiert wie in einen Ballsaal.

Von Raoul abserviert, steigt sie ohne jede Spur von Verantwortungsgefühl ins Bett mit Daniel (Denis Podalydès), obwohl sie weiß, daß der in einer festen Beziehung lebt. Daniel ist ungefähr so alt wie ihr Vater. „Völlig verdreht“ wird ihr neuer Liebhaber sie wenig später nennen. Während Anaïs nämlich eigentlich als studentische Hilfskraft auf einem Kolloquium ihrem Doktorvater zur Hand gehen sollte, nimmt sie an einem parallel stattfindenden Literatur-Kolloquium mit Daniels Partnerin Émilie teil. Die 56jährige Literatin hat es ihr, nachdem sie sie in Daniels Wohnung auf einer Fotografie sah, auf rätselhafte Weise angetan. „Ich glaube, wir sind uns ähnlich“, gibt die sprunghafte Studentin der viel älteren Frau zu verstehen. Als Daniel am Tagungsort in der Provinz auftaucht und seine junge Geliebte an der Seite seiner alten Geliebten sieht, fällt er aus allen Wolken und will Anaïs so schnell wie möglich loswerden. Die aber läßt sich nicht einfach abschieben. Sie ist entschlossen, so Émilies Analyse, die Illusion, der sie verfallen ist, für Liebe zu halten ...

Charline Bourgeois-Tacquet hat für ihren Film, trotz der nicht durchgehend leichten Thematik, einen heiter-beschwingten Ton gefunden, der das Vorbild der Jahreszeiten-Filme von Eric Rohmer erkennen läßt. Wie ihre Heldin ist auch die Regisseurin ganz Kind ihrer Zeit: Die Frage nach Anaïs’ sexueller Orientierung sei für sie gar kein Thema gewesen, so die Langfilm-Debütantin im Interview. „Und ich behaupte, daß das auch kein Thema ist in einer Zeit, in der sich die Menschen endlich erlauben, anders zu lieben. Es geht nur um das Begehren, das alle Grenzen in bezug auf gesellschaftliche Normen und Altersunterschiede sprengt.“ Aber es liegt natürlich im Auge des Betrachters, wie er ein Kunstwerk als Spiegel seiner Zeit bewertet und ob er die Verletzung tradierter gesellschaftlicher Normen als Zugewinn an Freiheit auffaßt oder als fortgeschrittene Morbidität.

Kinostart ist am 21. Juli 2022