© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 30-31/22 / 22. Juli 2022

Grenzgebiet zwischen den Elementen
Zufluchtsorte fern des Alltags: Eine Reise zu acht Stränden in Europa mit kultur-geschichtlichen Exkursen
Regina Bärthel

Sommer, Sonne, Strand: Das Gebiet zwischen Land und Meer gehört seit langem zu den Sehnsuchtsorten des Menschen, ob nun als Topographie der Weite und Ferne oder als wohlig-warmes Ressort des Nichtstuns. Wie ambivalent der Strand aber tatsächlich sein kann, zeigt Bettina Baltschev in ihrem Sachbuch „Am Rande der Glückseligkeit. Über den Strand“. Anhand von acht Orten in Europa, denen je ein Kapitel gewidmet ist, entwickelt die Autorin eine umfangreiche Kulturgeschichte, die zwischen persönlichem Reisebericht und Geschichtswerk fluktuiert. Vom frühen 17. Jahrhundert bis heute werden historische Ereignisse ebenso aufgefächert wie kulturelle und soziologische Perspektiven auf das Grenzgebiet zwischen den Elementen.

Denn das genau ist der Strand: ein Grenzgebiet. Zunächst markierte er die Grenze der für den Menschen bewohnbaren Welt, galt das Meer doch als wildes, unberechenbares Element. Erst langsam fanden diejenigen, die nicht als Fischer in die ungeheuerlichen Weiten aufbrachen, an den Strand. Im holländischen Scheveningen entdecken Maler wie Jacob van Ruisdael ihn Mitte des 17. Jahrhunderts als Symbol für die Schönheit ihres Landes und seiner in Gleichheit lebenden Gesellschaft. Damit ist der Bann des wilden Meeres gebrochen, denn auch wenn weiterhin Sturmfluten als Strafe Gottes wüten, machen die Niederländer das Naturschauspiel zwischen Land und Meer salonfähig.

Massentourismus an der spanischen Mittelmeerküste

Denn ab 1800 wird der Strand zum Prestigeort, wie schon bei Jane Austen nachzulesen ist, und mit rasanter Geschwindigkeit entwickelt sich Brighton zum größten Seebad Großbritanniens. Hier preisen Angehörige der upper class die erhabene Gefühlsgewalt des Meeres und pflegen sowohl ihre gesellschaftlichen Kontakte wie auch ihre Gesundheit durch – selbstredend züchtig verhülltes – Baden.

Damit beginnt die Funktion des Strandes als Erholungs- und Rückzugsort der Wohlsituierten, aber auch der Künstler und Literaten, die bald auch das freundlichere Mittelmeer sowie die Insel Ischia  entdecken und lieben lernen. Dank der Industrialisierung und ihrer sozialen Folgen rieselt der feine Sand hundert Jahre später peu à peu durch die Gesellschaftsschichten, bis der Massentourismus erreicht ist. Benidorm, an der spanischen Mittelmeerküste gelegen, ist sprechendes Beispiel für den Strand als Freizeit- und Konsumspektakel. Baltschev beschreibt das Phänomen mit leiser Verwunderung sowie literarischen, philosophischen und soziologischen Rekursen von Rafael Chirbes und Michel Foucault.

Ein Grenzgebiet war und ist der Strand aber auch in persönlicher und politischer Hinsicht: Er gibt das Versprechen zu Aufbruch und Freiheit und kann zugleich Territorium des erzwungenen Stillstands sein – bis hierhin und nicht weiter. Dies galt immer wieder in der Geschichte: für jene, die aus dem Deutschland der Nationalsozialisten ins belgische Ostende aufbrachen wie die Schriftstellerin Irmgard Keun, oder sich auf Hiddensee durch Nacktbaden und Neptunfeste Parallelwelten zum real existierenden Sozialismus schufen, wie die Romane von Christoph Hein und Lutz Seiler darstellen. Denn die DDR bewachte ihre Strände ebenso wie ihre Bürger und machte die Flucht in den Westen durch Flutlicht und Zugangsbeschränkungen nahezu unmöglich. 

Anderen wiederum gelingt die gefahrvolle Flucht nach Westen; sie lassen nicht-europäische Küsten hinter sich, stranden dann jedoch in Auffanglagern wie auf der griechischen Insel Lesbos. Denn der Strand kennt auch Kampf und Tod: Im Zweiten Weltkrieg landeten die Alliierten am 6. Juni 1944 in der Normandie. Doch während am Utah Beach ein nicht immer geschmackvoller Tourismus des Gedenkens entstand, meiden die Touristen das Elend auf Lesbos – zum Schaden der von zahlenden Gästen lebenden Einheimischen. 

Die Autorin bevorzugt den vom Wind umtosten Winterstrand

Der Strand als privilegierter Sehnsuchtsort, an dem man sich angesichts der schier unermeßlichen Weite fern des Alltags wiederfindet, steht dem Strand als Transitraum auf dem Weg zu einer neuen, lebenswerteren Existenz gegenüber. Immer wieder werden Strände zu den äußersten Rändern sich widersprechender Welten, sich bekämpfender Systeme. Baltschev nähert sich den sandigen Gestaden durch persönliche Eindrücke und erweitert sie durch zahlreiche Referenzen aus Kunst und Literatur, aus Geschichte und Soziologie. Das ist auf unterhaltsame Weise lehrreich und verbindet sich mit einer weiteren Qualität des Buchs: Auch in den reportageartigen Passagen wahrt Baltschev die Neutralität und zeigt weitestgehend wertfrei die Vielschichtigkeit der historischen wie aktuellen Ereignisse auf. Darüber hinaus verweist die Autorin in ihren intelligent und einprägsam formulierten Berichten immer wieder auf Parallelen und Unterschiede zwischen den beschriebenen Orten, Geschichten und Menschen und legt so ein feinmaschiges Netz über die Strände Europas.

Bettina Baltschev, 1973 in Ost-Berlin geboren und im thüringischen Erfurt aufgewachsen, kennt die Sehnsucht nach unerreichbar fernen Stränden, war doch selbst die Ostseeküste nur für wenige Bürger der DDR erreichbar. Nach der Wende studierte sie Kulturwissenschaften, Journalistik und Philosophie in Leipzig und Groningen. Heute lebt die Sachbuchautorin in Leipzig und Amsterdam, ist Redakteurin beim MDR und Geschäftsführerin des Sächsischen Literaturrats. Statt des sommerlichen Traumstrands bevorzugt Baltschev den leeren, vom Wind umtosten Winterstrand, „weil nicht Selbstvergessenheit das Gebot der Stunde ist, sondern Selbstbefragung und Selbstvergewisserung“.

Es ist diese Freude an der Auseinandersetzung, gepaart mit Wissensdurst und Humor, der das Buch so lesenswert macht. Darüber hinaus ist auch die Gestaltung des Buchs durch den Berenberg Verlag optisch wie haptisch eine wahre Freude. Völlig zu Recht wurde daher „Am Rande der Glückseligkeit. Über den Strand“ für den Deutschen Sachbuchpreis 2022 nominiert. Die Jurybegründung zitierte aus dem Buch den Maler Max Beckmann am Strand von Ostende: „Wenn ich der Kaiser der Erde wäre, würde ich als mein höchstes Recht mir ausbitten, einen Monat im Jahr allein zu sein am Strand.“

Bettina Baltschev: Am Rande der Glückseligkeit. Über den Strand. Berenberg Verlag, Berlin 2021, gebunden, 280 Seiten, Abbildungen, 25 Euro





Die schönsten Strände Deutschlands

Nordsee oder Ostsee, Festlandküste oder Insel – wo befindet sich der schönste Strand Deutschlands? Das Online-Reisemagazin Travelbook hatte seine Leser in diesem Frühjahr über die sozialen Netzwerke dazu aufgerufen, ihre Lieblingsstrände zu nennen. Aus allen Einsendungen wählte die Redaktion dann zwölf Strände aus, über die abgestimmt werden sollte. Ergebnis: Auf dem ersten Platz landete der Südstrand auf der ostfriesischen Insel Borkum. Für ihn votierten den Angaben nach 15 Prozent der mehr als 34.000 abgegebenen Stimmen. Zu den Sehenswürdigkeiten dort gehört ein rot-weiß-gestreifter elektrischer Leuchtturm, der seit einigen Jahren jedoch nicht mehr in Betrieb ist. Den zweiten Platz teilen sich mit jeweils 12 Prozent gleich drei Strände: der Weststrand auf der Ostseeinsel Fischland-Darß-Zingst, der Strand auf der autofreien Insel Juist und der Strand der Gemeinde Kampen auf Sylt. Den dritten Platz in der Rangfolge belegte der Strand in dem Nordseeheilbad Sankt Peter-Ording (www.travelbook.de).