© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 30-31/22 / 22. Juli 2022

Wo die Seele Atem schöpfen kann
Die schöne Rückseite des Globus: Reiseimpressionen aus dem Südpazifik
Ludwig Witzani

Was sind die Merkmale einer idealen Insel? Zunächst natürlich eine Reihe puderweißer Palmenstrände, die den Übergang von Land und Meer markieren. Zur idealen Insel gehören Berge, die sich zu  malerischen Silhouetten verbinden und möglichst dramatisch ins Meer stürzen. Fehlt nur noch ein Saumriff, das die Insel vor der Brandung des Meeres schützt und jene türkisgrüne Lagune erzeugt, die als das Nonplusultra einer idealen Insel gilt. Mit einem Wort: wir sprechen von einer Südseeinsel.  

Im Tahiti-Museum von Papeete wird der Lebenszyklus einer solchen Südseeinsel dokumentiert. Auf großen Karten und Animationen ist zu sehen, wie Unterwasservulkane in Jahrhunderttausenden vom Meeresboden aus der Wasseroberfläche entgegenwachsen, sie durchbrechen und als junge, dampfende Inseln geboren werden. Den formenden Kräften von Regen und Wind preisgegeben, wachsen sie weiter, verändern ihre Konturen und bedecken sich mit dichtem, grünem Lebenspelz. Irgendwann einmal verlieren sie den Kontakt zu ihrer unterirdisch-vulkanischen Geburtsstätte. Sie erkalten, erodieren, verfallen und versinken unter der Last ihres eigenen Gewichtes wieder im Meer. Zurück bleibt ein Atoll, dessen riffartiger, flacher Rand das große Wassergrab eines ehemaligen Vulkans umsäumt. Fünfzig, hundert oder dreihundert Kilometer weiter erzeugt dann der gleiche „hot spot“, der offene Lavaschlund auf der wandernden pazifischen Platte eine neue Insel, so daß sich im Laufe der Jahrmillionen immer neue flottenartig angeordnete Inselketten im Ozean bilden, lauter geologische Geschwister mit einem unterschiedlich hohen erdgeschichtlichen Alter. 

An Bora Bora, das viele für die schönste Insel der Welt halten, kann man die Kombination dieser Merkmale in Reinkultur beobachten. Aus der Entfernung wirkt die Insel wie eine grüne Festung, die mit zwei dicht bewachsenen ehemaligen Vulkanschloten aus dem Meer ragt. Umgeben ist die Insel von einem Korallenriff und einem Kranz türkisgrünen Wassers. In dieser Gestalt präsentiert Bora Bora den geologischen Augenblick der maximalen Schönheit, den es bei diesem Lebenszyklus geben kann. Der ursprüngliche Vulkan ist noch nicht im Meer versunken, und schon hat sich ein Saumriff gebildet. Die Insel mit ihren Bergen steht noch voll im Saft, aber ihr künftiges Grab im Meer ist bereits sichtbar.

Europäer ließen keinen Stein auf dem anderen

Dergleichen Ansichten haben das südpazifische Polynesien zu einem Traumziel des Fernreisetourismus gemacht. Nicht nur Bora Bora, auch Tahitis Nachbarinsel Moorea, die hawaiianische Garteninsel Kauai oder die Marquesas gelten Südseereisenden als allererste Adressen, ganz zu schweigen von dem Traumatoll von Atutaki, der geheimnisvollen Osterinsel oder den neuseeländischen Fjorden. Die Schönheit der Südsee, hat der Romanautor Robert Louis Stevenson gesagt, besteht nicht aus wenigen Sternen, deren Licht den ganzen Himmel überstrahlt, sondern sie gleicht einer Milchstraße, einem Sternenstaub aus Tausenden von Lichtern, bei der auch das kleinste das Seine zum Glanz des Ganzen beiträgt.

Kein Wunder, daß die europäischen Entdecker des 18. Jahrhunderts in der Südsee ein irdisches Paradies zu entdecken glaubten. Der französische Weltumsegler Louis Antoine de Bougainville, der Tahiti 1768 erreichte, ein Jahr vor Captain Cook, war der erste, der nicht nur die Schönheit der Inseln, sondern auch die Wohlgestalt und das freie Leben der Eingeborenen pries. Der französische Enzyklopädist Diderot fügte noch einen Schuß Rousseau hinzu, und schon war der Mythos vom guten Wilden geboren. Die Schattenseiten des Südseelebens wie Kriege und Kannibalismus fielen unter den Tisch. 

Die reale Geschichte aber sah ganz anders aus. Überall waren die Europäer wie eine Heimsuchung über die Inseln hereingebrochen und hatten keinen Stein auf dem anderen gelassen. Private Geschäftemacher begannen mit der Abholzung der Sandelholzwälder und der Kaurifichten, ganz zu schweigen von den Walfangflotten, die von nun an die Küsten der Südsee unsicher machten. Dies vollzog sich fast überall in enger Anlehnung an die lokalen Eliten, die durch die Lieferung von Feuerwaffen ihre Inselherrschaften erweiterten. So entstanden die Kamehameha-Dynastie von Hawaii und die Herrschaft der Pomare-Könige auf Tahiti. 

Bald gesellten sich zu Händlern und Walfängern anglikanische, protestantische und katholische Missionare, die die alten Götter stürzten, die Praxis der Menschenopfer beendeten und den sinnenfrohen Insulanern ein strenges Christentum überstülpten. In der Mitte des 19. Jahrhunderts, als die unmittelbar zugänglichen Naturressourcen aufgebraucht  waren, erfolgte der Import inselfremder Nutzpflanzen wie Zuckerrohr, Ananas oder Kaffee. Der damit verbundene Arbeitskräftebedarf führte zur massenhaften Einwanderung indischer, chinesischer und japanischer Kontraktarbeiter, die nach dem Auslaufen ihrer Verträge auf den Inseln blieben und die demographischen Verhältnisse revolutionierten. Der europäischen und asiatischen Masseneinwanderung folgten Krankheiten wie Pest und Lepra, die zu einem rapiden Absinken der einheimischen Bevölkerung führten. Einige der bittersten Südseegeschichten von Jack London erzählen von den Leprakolonien auf Hawaii.

Niedergang der indigenen Bevölkerung setzte sich fort

Am Ende stand dann die Annexion der Südseeinseln durch die westlichen Mächte. So erhielt Großbritannien 1840 im Vertrag von Waitangi das Supremat über Neuseeland, mußte es aber anschließend in den blutigen Maorikriegen gegen  eine einheimische Widerstandsbewegung verteidigen. Frankreich gewann ab 1842 Tahiti und die Marquesas. Ein inszenierter Staatsstreich führte  1893/1900 zur Annexion des Hawaii-Archipels durch die USA. Die samoanischen Inseln wurden 1899 zwischen Deutschland und den USA aufgeteilt. Ganz ähnlich vollzog sich das Inselfleddern auch im benachbarten Melanesien. 

Der Niedergang der indigenen Bevölkerung setzte sich auch unter der Herrschaft der Kolonialmächte fort. Am schlimmsten traf es die Einwohner der Osterinsel, die in die peruanischen Minen verschleppt und später auf ihrer eigenen kleinen Insel in Reservate gesteckt wurden, damit chilenische Großfarmer Raum für ihre Schafherden hatten. Auf West-Samoa verhinderte der deutsche Gouverneur Wilhelm Solf die Pläne des Südseeabenteurers Richard Deeken, der mit seinem Buch „Manuia Samoa“ (1901) ein regelrechtes Südseefieber in Deutschland ausgelöst hatte und der die Samoaner zur Zwangsarbeit auf deutschen Kopra-Plantagen heranziehen wollte. 

Wer heute als Tourist den Pazifik zwischen Tonga und der Osterinsel, zwischen Hawaii, Tahiti und Neuseeland bereist, trifft auf ein weitgehend verwestlichtes Polynesien. Weite Teile von dem, was geographisch noch zu Polynesien zählt, sind bereits in eine andere Kultursphäre übergetreten. In Neuseeland existieren die Maoris nur noch als eine benachteiligte Minderheit, auf Hawaii sind sie dabei, in einem kosmopolitischen melting pot als Ethnie zu verschwinden. Auf Tahiti, Moorea und Bora Bora kommt man sich vor wie in einem schöneren, mediterranen Frankreich.

Gleichwohl ist Polynesien noch nicht ganz verschwunden. Überlebt hat es abseits von Honolulu und Auckland auf den kleineren Inseln, etwa auf Rarotonga (Cook Islands), auf Tongatapu (Tonga) oder dem üppigen Upolu (West-Samoa). Hier erfährt der Reisende eine Entschleunigung ganz eigener Art, eine für den Menschen des Westens überraschende Dehnung der Zeit, gerade so, als übertrage sich die Weite des pazifischen Raumes auf das Erlebnis der subjektiven Zeit. Gibt man sich dieser Entschleunigung anheim, wirken die Inseln der Südsee noch immer so, wie sie Robert Louis Stevenson in seinen letzten Jahren beschrieben hat, wie ein Atemholen der Seele und eine psychohygienische Prophylaxe gegen Lebensüberdruß und Häßlichkeit, die den Wunsch erzeugt, eines Tages  zurückzukommen.






Dr. Ludwig Witzani, Jahrgang 1950, ist Reisejournalist und hat den Südpazifik auf vier ausgedehnten Reisen erkundet.

 http://ludwig-witzani.de/autor/

Ludwig Witzani: Der unendliche Ozean. Pazifische Reisen zwischen Fidschi und Hawaii, Neuseeland und den Osterinseln. epubli GmbH, Berlin 2022, broschiert, 328 Seiten, 14,95 Euro