© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 30-31/22 / 22. Juli 2022

Kritik des „Great Reset“ und anderer technokratischer Gesellschafts-Transformationspläne
Wie Innovationen entstehen
Olivier Kessler

Die Gesellschaft wird von Politanalysten gern in zwei Lager aufgeteilt: die Konservativen und die Progressiven. Konservative halten den jetzigen oder einen früheren Zustand der Gesellschaft für ideal und wollen diesen zementieren. Innovationen und neue Technologien bedrohen aus dieser Sicht die Tradition, das Althergebrachte, den sozialen Zusammenhalt, weshalb sie sich oft politischer Mittel wie Technologie-Moratorien und anderer Verbote bedienen. Progressive auf der anderen Seite des politischen Spektrums meinen gesehen zu haben, daß in der Zukunft etwas Besseres auf uns wartet. Ihnen kann der Wandel nicht schnell genug gehen, und sie greifen oft zu politischen Mitteln wie Subventionen und Förderprogrammen, um die aus ihrer Sicht „wichtigen“ Technologien, Produkte oder Dienstleistungen voranzutreiben.

Doch es ist eine Frage, ob jemand den Fortschritt mag oder nicht. Eine andere Frage ist es, ob jemand Fortschritt mit offenem Ende zu akzeptieren bereit ist. Ist man gewillt, jedem einzelnen seine Freiheiten zu lassen, um zu experimentieren, Neues auszuprobieren und nach eigenem Gutdünken zu investieren und unternehmerisch tätig zu werden – auch wenn man nicht weiß, was das Endresultat sein wird? Denn nur dies ist die Art von Wandel, die natürlich-evolutiv erwächst und eben nicht von oben verordnet wird. Nur ein solcher ermöglicht den Fortschritt auf überraschende Art und Weise – und es war in erster Linie dieses überraschende Element, das dabei geholfen hat, unseren Lebensstandard in den letzten 200 Jahren derart massiv anzuheben.

Viginia Postrel führt uns in ihrem Buch mit dem Titel „The Future and Its Enemies“ vor Augen, daß sowohl die Konservativen, die den Status quo verteidigen, als auch die progressiven Technokraten eine gemeinsame Eigenschaft haben: Sie sind gegenüber einem Wandel mit offenem Ende feindselig eingestellt. Sie wollen beide keinen Wandel, der aus Millionen von Experimenten, also aus Versuch und Irrtum entsteht, sondern höchstens einen, der von politischen Planern herbeigeführt und gelenkt wird. Sie beide wollen kontrollieren, was nicht kontrolliert werden kann. Für beide Gruppen ist das Ziel der Stillstand: Die eine Gruppe will den Stillstand in der Vergangenheit, die andere den Stillstand in der Zukunft.

Die aus liberaler Sicht entscheidende Unterteilung der Lager verläuft also nicht zwischen Konservativen einerseits, die die Vergangenheit mit staatlichem Zwang zementieren wollen, und den technokratischen Progressiven andererseits, die mit staatlichem Zwang die Zukunft gestalten wollen. Vielmehr verläuft der Graben zwischen Dynamischen und Statischen.

Suchen wir nach Statik, also einer regulierten, durchkonstruierten Welt? Oder heißen wir die Dynamik willkommen, eine Welt also, in der stets Neues geschaffen und entdeckt wird? Schätzen wir Stabilität und Kontrolle? Oder die Evolution und das Lernen? Glauben wir, daß der Fortschritt eine Blaupause braucht, also sozusagen von unfehlbaren und allwissenden Experten erdacht und geplant werden kann? Oder sehen wir ihn als einen dezentralisierten, evolutionären Prozeß an, der nicht einem übergreifenden Plan folgt? Streben wir nach Vorhersagbarkeit? Oder erfreuen wir uns an Überraschungen?

Das sind die entscheidenden Fragen. Und so gesehen sind sich etatistische Konservative und technokratische Progressive ähnlicher, als ihnen wahrscheinlich lieb ist. Denn technokratische Zukunftspläne wie der „Great Reset“ oder der „Green New Deal“, in denen die Planer heute bereits exakt zu wissen vorgeben, wie die Zukunft aussehen wird und genau festlegen wollen, wie sich die Menschen heute und künftig zu verhalten haben, sind ebenso ein Ausfluß der Ideologie der Statik wie der Wunsch der Konservativen, den Sprung ins Ungewisse mit staatlichen Interventionen zu verhindern.

Die technokratische Herangehensweise bei allen Problemen lautet: Wir finden die beste Lösung und setzen diese überall durch. Das mag verlockend klingen, doch staatliche Gelder für Technologiesubventionen auszugeben oder die Bürger mit Zwangsmaßnahmen zu einem bestimmten Verhalten zu nötigen, beseitigt das Wissen der Vielen, das unter anderem über den marktwirtschaftlichen Preismechanismus zum Ausdruck kommt und die vielen individuellen Pläne miteinander abstimmt.

Staatsinterventionen zur Forcierung einer bestimmten Zukunftsvision unterdrücken die unterschiedlichen Bewertungen und verschiedenen Herangehensweisen, verunmöglichen die unzähligen Problemlösungsversuche durch Millionen von Menschen und ersetzen diese dezentralen Prozesse durch die Einschätzung einer kleinen Gruppe von Politikern und Funktionären. Es kommt zu einer gewaltigen Reduktion an Wissen, was das Hauptproblem einer jeden Planwirtschaft ist und tendenziell zu schlechteren Ergebnissen führen muß.

Politische Entscheidungsträger sind nicht notwendigerweise dümmer als die Durchschnittsbevölkerung, aber auch nicht gescheiter. Letztlich geht es bei der Frage, wer den Fortschritt vorantreiben soll, auch nicht um den IQ, sondern um das auf viele Personen verteilte Wissen, Können und Erkennen von Chancen: Je mehr Menschen sich an diesem Prozeß beteiligen dürfen, desto wahrscheinlicher ist es, daß sich dabei verschiedene Lösungsansätze herauskristallisieren, die sich im Wettbewerb miteinander messen können. Dabei setzen sich die besseren Lösungen durch und die schlechteren werden wieder fallengelassen, weil sie nicht nachgefragt werden und das Kapital in die Hände jener wandert, die es besser machen.

Deshalb ist es gefährlich, den enormen dezentralen Wissensfundus der Gesamtbevölkerung zu ignorieren und vom Gestaltungsprozeß abzukapseln und statt dessen nur auf einige wenige Köpfe, einen Bruchteil der Bevölkerung zu setzen, der notwendigerweise weniger „Know-how“ auf sich vereinen kann als die Gesamtbevölkerung.

Lebensverbessernde Innovationen, die hauptsächlich für den Fortschritt in der Geschichte der Menschheit verantwortlich waren, sind nicht das Ergebnis einzelner brillanter Erfinder, wie wir uns das vereinfacht vorstellen, wenn wir die Komplexität der Welt ausklammern. Neue nützliche Produkte und Dienstleistungen entstehen meistens nicht aufgrund eines einzelnen revolutionären Einfalls eines brillanten Kopfs aus dem Nichts heraus.

Vielmehr sind sie – das hat auch der Wissenschaftsautor Matt Ridley in seinem Buch „How Innovation Works“ so schön aufgezeigt – das Resultat offener Prozesse von Versuch und Irrtum, an denen unzählige Menschen auf freien Märkten beteiligt sind. Innovationen entstünden, so Ridley, „wenn Ideen Sex miteinander haben“. Damit das geschehen kann, muß die Gesellschaft offen sein und bleiben. Entscheidend ist eine Umgebung der intellektuellen Freiheit, der Meinungsäußerungsfreiheit, der Forschungsfreiheit, der wirtschaftlichen Freiheit sowie das Vorhandensein vieler dezentraler Finanzierungsquellen zur Realisierung allerlei unternehmerischer Ideen.

Das ist das pure Gegenteil eines großangelegten technokratischen Masterplans, der mit zentralisierten Finanzierungsquellen in den monopolistischen Händen der politischen Kaste durchgeboxt werden soll. Solche Phantastereien sind nicht nur Ausdruck einer gewaltigen „Anmaßung von Wissen“, sondern auch ein sicherer „Weg zur Knechtschaft“, wie es Nobelpreisträger Friedrich August von Hayek genannt hatte.

Technokraten vernachlässigen in der Regel außerdem sträflich die Lern- und Anpassungsfähigkeit der Menschen bei auftretenden Herausforderungen. Viele von ihnen erkennen im potentiell leichten Anstieg der Meeresspiegel über die nächsten Jahrhunderte hinweg eine gigantische Katastrophe für die Menschheit und wollen unter diesem Vorwand massiv in die Freiheitsrechte der Bürger eingreifen, um den Klimawandel aufzuhalten (hier soll wieder einmal etwas statisch gemacht werden, was aufgrund der enormen Komplexität vermutlich nie statisch sein kann).

Dabei ignorieren sie, daß Menschen auf praktisch alle Probleme eine Antwort gefunden haben, wenn man sie denn nur machen läßt. So lebt bereits heute ein signifikanter Teil der niederländischen Bevölkerung unter dem Meeresspiegel oder baut Häuser auf Wasser. Die Menschheit braucht also Wohlstand, um Ideen zu entwickeln und zu realisieren, damit wir mit unseren Problemen fertigwerden. Wohlstand entsteht jedoch in einem Klima der Freiheit und der Marktwirtschaft, nicht in einem paternalistischen Klima der Alles-Regulatoren, die den Teufel an die Wand malen, um ihn mit einer interventionistischen bis totalitären Politik selbst zu verkörpern.

Technokratische Progressive sind, so fortschrittlich sie sich auch präsentieren mögen, Feinde der offenen Gesellschaft. Sie maßen sich an, ganz genau zu wissen, welcher Fortschritt im Interesse der Allgemeinheit sei und welcher nicht, anstatt ebendiese Allgemeinheit selbst darüber entscheiden zu lassen, welche Innovationen sie am meisten schätzen und unterstützen – zum Beispiel indem man die Bürger ihr Geld selbst für freiwillige Kauf- und Investitionsentscheide ausgeben läßt, anstatt es via Besteuerung einzutreiben und es dann von wissensanmaßenden Funktionären ausgeben zu lassen.

Technokratische Progressive behaupten also lediglich, im allgemeinen Interesse zu handeln. Doch dies ist bestenfalls eine Wunschvorstellung, wenn nicht sogar Irreführung. Oftmals geht es nämlich vor allem um die Durchsetzung einer Macht- und Sonderinteressenpolitik, indem man den Bürgern die Entscheidungsgewalt rauben und diese in die Hände einer kleinen Elite legen will. Sie zertrümmern damit, ob gewollt oder ungewollt, die Säulen des wissenschaftlichen, wirtschaftlichen und kulturellen Erfolgs und damit auch das Fundament eines echten Fortschritts, der sich im Sinne der Allgemeinheit vollzieht.

Die Lösung besteht – das vermag aus liberaler Warte kaum zu überraschen – darin, den Staatsapparat abzubauen und zu reduzieren, damit diese technokratischen Dystopien nicht mit den Zwangsinstrumenten des Gewaltmonopols in die Realität umgesetzt und „top down“ verordnet werden können. Schaffen wir es, dem Staat den Großteil seiner Mittel wegzunehmen und damit sein Bedrohungspotential zu reduzieren, könnte auch die technokratische Gefahr gebannt werden. 






Olivier Kessler, Jahrgang 1986, ist Ökonom, Publizist und Direktor des Liberalen Instituts in Zürich. Er ist Autor und Herausgeber zahlreicher Bücher, zuletzt „Verlockung der Macht. Die Kunst, die offene Gesellschaft zu verteidigen“ (2022).

 www.libinst.ch

Foto: Auf viele Personen verteiltes Wissen: Je mehr Menschen sich am Fortschrittsprozeß beteiligen dürfen, desto wahrscheinlicher ist es, daß sich dabei verschiedene Lösungsansätze herauskristallisieren, die sich im Wettbewerb miteinander messen können. Dabei setzen sich die besseren Lösungen durch.