© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 30-31/22 / 22. Juli 2022

Algerien: Entkolonialisierung und Massenmord
Befreier an der Macht
(ob)

Es ist eine etwas unbequeme Tatsache, daß die schärfsten Gegner des Kolonialismus größtenteils aus dem Bildungsbürgertum stammten. So war es auch bei Frantz Fanon (1925–1961), den eine heute wieder wachsende Anhängerschaft zum „wichtigsten revolutionären Intellektuellen des 21. (!) Jahrhunderts“ ausruft. Ein Wechsel auf die Zukunft, der selbst für den mit Fanons Vision einer „Gesellschaft ohne Rasse“ sympathisierenden New Yorker Publizisten Kwame Anthony Appiah nichts Gutes verheißt (Merkur, 6/2022). Denn an der Biographie dieses Ideologen des algerischen Befreiungskampfes, dessen Klassiker „Die Verdammten dieser Erde“ als „Bibel der Dekolonisation“ gilt, bestätige sich die alte Regel, daß man sich vor Gruppen wie Fanons streng autokratisch organisierte algerische Befreiungsfront (FLN) hüten müsse, sobald sie an der Macht sind. 1962, im Jahr der Unabhängigkeit, seien Zehntausende von Harki, einheimische Algerier, die für die französischen Kolonialherren gearbeitet hatten, vom FLN-Mob „abgeschlachtet“ worden. 150.000 Juden wurden aufgrund eines rassistischen Gesetzes vertrieben, wonach niemand Staatsbürger sein konnte, der nicht Muslim war. An diese Praktiken knüpfte das FNL-Regime wieder im „schmutzigen Krieg“ der frühen 1990er an, als es 200.000 Algerier töten und viele mehr foltern ließ. 


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