© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 30-31/22 / 22. Juli 2022

Eskalation in Derry und Belfast
Nordirlandkonflikt 1972: Briten dringen in katholische Viertel vor
Marcel Waschek

In der Dämmerung des 31. Juli 1972 durchbrachen britische Räumpanzer der Royal Engineers die Barrikaden, die die irisch-katholischen Stadtteile Derrys  und Belfasts vom Rest der jeweiligen Stadt trennten. Infanterie und gepanzerte Fahrzeuge strömten sofort durch die Breschen und füllten die Straßen. Dabei drangen britische Soldaten sogar durch aufgesprengte Türen und eingeschlagene Fenster in Wohnhäuser ein. Panzerwagen sicherten den Vormarsch und wichtige Punkte. Vereinzelt waren Schüsse zu hören.

Die Operationen „Motorman“ in Belfast und „Carcan“ in Derry sowie weitere kleinere Einsätze waren das Ergebnis der sich immer weiter zu einem Bürgerkrieg ausweitenden Lage in Nordirland. Die katholischen Wohnbezirke in Belfast und Derry waren nach dem Massaker vom „Bloody Sunday“ am 30. Januar 1972 zu regelrechten No-go-Areas für den britischen Staat und Protestanten geworden. Die Irish Republican Army, welche sich in die bellizistischere „Provisional IRA“ (pIRA) und die auf Massenproteste setzende Hauptströmung der IRA gespalten hatte, sah ihre Chance gekommen, den Schutzmachtstatus über die katholischen Iren einzunehmen und den Druck auf Westminster zu erhöhen, langfristig einer Vereinigung Irlands zuzustimmen. Zu diesem Zweck verstärkten IRA-Kämpfer die Reihen der katholischen Citizens’ Defence Association in den beiden Städten. Darüber hinaus begann die pIRA mit einer Bombenkampagne gegen den britischen Staat und Protestanten. Die IRA verkündete am 29. Mai 1972 in Angesicht der Eskalation und einer zunehmenden Anzahl unbeteiligter Opfer einen Waffenstillstand. Die pIRA verhandelte heimlich mit der englischen Regierung, allerdings ohne Ergebnis.

Als 1972 die Gewalt mit über 500 Todesopfern ihren vorläufigen Höhepunkt erreichte, sah sich die britische Regierung zum Handeln genötigt. Da der Versuch, die Konfliktparteien zu trennen, erfolglos war und die britische Armee mit häufig wahllosen Hausdurchsuchungen und brutalen Verhaftungen von Katholiken zusehends das Vertrauen vieler Iren verlor, sah sie sich zum Handeln genötigt. Aufgrund der offensichtlichen Truppenkonzentration der britischen Armee war die IRA größtenteils aus den Vierteln abgezogen. Die Bewohner leisteten angesichts der Stärke der mechanisierten Verbände zudem keinen Widerstand. Daher kam es zu keinen Verlusten unter den Briten. Allerdings wurde der unbewaffnete 15jährige Katholik Daniel Hegarty durch Kopfschüsse getötet. Seamus Bradley, ein pIRA-Kämpfer, der als Späher zurückgeblieben war, wurde tödlich verwundet. Das 19th Regiment Royal Artillery besetzte das Casement-Stadion in Belfast.

Während der Operation konnte die Kontrolle über die katholischen Bezirke erlangt werden, welche zwar ein Unruheherd blieben, aber nicht mehr als Rückzugsraum militanter Katholiken genutzt werden konnten. Doch die Gewalt nahm in den folgenden Jahren zu, mit verheerender Bilanz: Während der Zeit der „Troubles“ zwischen 1968 und 1998 kamen in Nordirland insgesamt über 3.000 Menschen ums Leben. Besonders die Katholiken nahmen die Operationen im Ende Juli 1972 als Anlaß zur weiteren Radikalisierung.