© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 30-31/22 / 22. Juli 2022

Das Schachbrett wurde umgeworfen
Der Moskauer Ex-Botschafter Rüdiger von Fritsch über die verfahrene Situation nach Rußlands Angriff auf die Ukraine
Jörg Kürschner

Wie endet der russische Überfall der Ukraine? Die deutsche Dauerdebatte über die Lieferung schwerer Waffen kann nicht kaschieren, daß die Frage nach dem Kriegsziel weiterhin unbeantwortet bleibt. Wird es Kriegspräsident Wladimir Putin gelingen, die staatliche Existenz der Ukraine zu vernichten, oder kann sich das geschundene Land mit Hilfe des Westens gegen den Aggressor behaupten? Offene Fragen bald ein halbes Jahr nach Beginn der Invasion.

Rüdiger von Fritsch, von 2014 bis 2019 Botschafter in Moskau, kann diese entscheidende Frage nicht beantworten, wohl aber aufzeigen, wie Europa am Ende dieses Krieges aussehen könnte. Den langjährigen Rußland-Kenner beschäftigt der mögliche Neuansatz einer Politik nach einem Waffenstillstand und die Vorhersehbarkeit dieses Krieges, den auch er nicht für vorstellbar gehalten hat. Hat der Westen nach dem Mauerfall 1989 Fehler gemacht gegenüber der Sowjetunion, Zusagen nicht eingehalten und das spätere Rußland gar gedemütigt? 

Jedenfalls entlarvt Fritsch die russische Behauptung als Legende, es habe Verabredungen gegeben, die Nato nicht nach Osten zu erweitern. Belegt wird dies durch wörtliche Zitate des damaligen Staats- und Parteichefs Michail Gorbatschow gegenüber dem Buchautor. Und schließlich existierte während der Verhandlungen über die deutsche Einheit noch der Warschauer Pakt, dem östlichen Gegenstück zur Nato. „Man stelle sich einmal vor, der amerikanische Außenminister hätte seinem sowjetischen Kollegen im Sommer 1990 zugesagt, Lettland nicht in die Nato aufzunehmen – einen zu diesem Zeitpunkt festen Bestandteil der Sowjet-union“, so der Hinweis des erfahrenen Diplomaten.

Fritsch bewertet das Minsker Abkommen, das seit 2014 unter Vermittlung Deutschlands und Frankreichs einen besonderen Status für den Donbas vorsah, im Rückblick kritisch. Rußland sei passiv gewesen und die Ukraine habe wenig unternommen, um die russischsprachigen Ukrainer für sich zu gewinnen. Trotz einer Abnahme der Kampfhandlungen habe sich im Donbas eine „humanitäre Katastrophe“ zugetragen. Daß das Abkommen letztlich zum Scheitern verurteilt war, zeigen Putins Lügen. Noch neun Tage vor dem Einmarsch seiner Truppen in die Ukraine versicherte der russische Präsident beim Besuch von Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) in Moskau, „daß die Möglichkeiten bei der Erfüllung der Minsker Vereinbarungen noch nicht ausgeschöpft sind“. Der einstige Botschafter verzichtet auf Schuldzuweisungen etwa gegenüber Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU), die „Minsk“ stets als Schlüssel für die Befriedung des Konflikts zwischen Moskau und Kiew gepriesen hatte und damit auf die Lügenmärchen des früheren Geheimdienstoffiziers hereingefallen war. Er sei gegen „rückblickende Rechthaberei“, bekennt Fritsch, ganz der Diplomat. Oder etwas griffiger formuliert: „Putin hat das Schachbrett umgeworfen. Das macht weder die Regeln des Schachs noch frühere Züge falsch.“

Irgendwann muß ein Sinneswandel bei Putin eingetreten sein, der noch im April 2004 in Moskau auf einer gemeinsamen Pressekonferenz mit Bundeskanzler Gerhard Schröder (SPD) erklärt hatte: „Hinsichtlich der Nato-Erweiterung haben wir keine Sorgen mit Blick auf die Sicherheit der Russischen Föderation.“ Ein Jahr später bezeichnet Putin den Zerfall der Sowjetunion als „die größte geopolitische Katastrophe des 20. Jahrhunderts“. Offenbar war es eine Abfolge von Geschehnissen, die Putins Mißtrauen geweckt haben. 1999 das militärische Eingreifen der Nato im Jugoslawien-Krieg zugunsten der Kosovaren gegen Serbien ohne Mandat der Uno; 2002 die einseitige Kündigung des Rüstungskontrollvertrages (ABM) durch die USA, um sich nach den Anschlägen des 11. September 2001 „gegen alle Formen des Terrors zu schützen“, wie US-Präsident Georg Bush junior die Entscheidung seinerzeit begründet hatte. Wie paßt zusammen, daß Putin 2004 gelassen auf die Nato-Osterweiterung reagiert hatte? 

Rußland leidet unter Phantomschmerzen

Fritsch, der mehrfach mit Putin gesprochen hat, bescheinigt ihm ein Denken, das einer eigenen Rationalität folge, „nur einer anderen als unseres“. Jedenfalls begann dessen Abkehr vom Westen 2007 auf der Münchner Sicherheitskonferenz. Dort warnte der Kreml-Herrscher die Nato vor einem weiteren Vorrücken nach Osten. Die USA hätten ihre Grenzen „in allen Sphären überschritten“ – und würden der ganzen Welt ihre eigenen Vorstellungen aufzwingen. „Nun, wem gefällt das schon?“ Diese Brandrede schockierte die überraschten Zuhörer, wurde aber nicht ernst genommen. Es folgten 2014 die Einverleibung der Krim und der Kriegsbeginn in der Ostukraine. Dort unterstützt Rußland die Separatisten mit Waffen und Soldaten. Mehr als 14.000 Menschen sind seitdem umgekommen. 

Der Autor erklärt Putins Handeln mit einem „großen, unbewältigten Trauma, der 2018 in seiner „Rede zur Lage der Nation“ exakt aufzählte, was nach dem Zerfall der Sowjetunion alles abhanden gekommen war: 23,8 Prozent des Territoriums, 48,5 Prozent der Bevölkerung, 41 Prozent des Bruttosozialprodukts. „Rußland leidet unter Phantomschmerzen“, zitiert Fritsch zustimmend den einstigen US-Außenminister Henry Kissinger. Wie kann es weitergehen mit einem sich offenbar gedemütigt fühlenden Land? Der Rußland-Kenner plädiert für eine „geordnete Konfrontation“. An einer Verabredung zur Begrenzung großer Waffensysteme und konventioneller militärischer Fähigkeiten zeige auch Moskau Interesse, kann sich Fritsch einen politischen Neuansatz zwischen Rußland und den USA vorstellen. Deutschland solle aber nicht auf einen baldigen demokratischen Wandel in Rußland hoffen, unabhängig von Putins politischem Schicksal, mahnt Fritsch, der den „Menschen in tiefer Sympathie verbunden bleibt“ und weiterhin seine Kontakte pflegt.

Rüdiger von Fritsch: Zeitenwende. Putins Krieg und die Folgen. Aufbau Verlag, Berlin 2022, broschiert, 177 Seiten, 18 Euro