© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 30-31/22 / 22. Juli 2022

Der Flaneur
Besser als der Twittervogel
Tobias Dahlbrügge

Ein Amselmännchen beansprucht meine Terrasse als Balzrevier. Pausenlos plustert es sich auf, streckt die Stoßfedern steil in die Höhe und flötet aus voller Vogelkehle.

Doch ein Rivale macht ihm das Leben schwer. Kaum ist der Alte außer Sicht, kommt ein Jungspund daher und versucht, den Amseldamen zu imponieren. Vernimmt der Platzhirsch den Lockruf des Konkurrenten, eilt er schnell herbei und es fliegen die Fäuste … vielmehr Flügel.

Er verjagt den Eindringling und verfolgt ihn bis über die Dachkante der nächsten Häuserreihe. Doch der Erzrivale läßt nicht locker: Schon ist er zurück und provoziert den Silberrücken erneut. Der ist mächtig im Streß, denn das Werben um die Weiber verschlingt ebensoviel Energie wie das Vertreiben des frechen Mitbewerbers. Man bekommt direkt Mitleid.

Die Vogelbadewanne aus einem alten Blumentopf-Untersetzer, die ich täglich neu befülle, nutzen beide, allerdings zu verschiedenen Zeiten. Es wirkt wie ein Burgfrieden. Wie ein Atemschöpfen, bis es erneut in den Kampf um die Mädels geht. Bisher ist das Stechen noch nicht entschieden. Doch es lauert eine dritte Gefahr auf Revierverteidiger und Nebenbuhler: die Katze der Nachbarn.

Was für Dramen man miterlebt, wenn man das Smartphone einfach mal beiseite läßt.

Die Räuberin schleicht mit angespannten Muskeln um den Kirschlorbeer, auf dem beide abwechselnd zum Minnegesang hocken. Ein paarmal habe ich ihren tödlichen Zugriff schon mittels Wasserpistole verhindert, aber ich kann ja nicht dauernd auf meinem Posten sein. Für einige Vögelchen kam die „Kavallerie“ aber leider schon zu spät, wie die Spatzenfedern mit den abgerissenen Kielen auf dem Rasen berichten …

Die beiden kleinen Igel, die in der Dunkelheit unter dem Lorbeerbusch scharren und schmatzen, kriegen von alldem nichts mit. Sie sind mit sich selbst beschäftigt und nutzen die Vogelwanne als Tränke.

Was für mitreißende Dramen man doch miterlebt, wenn man das Smartphone einfach mal beiseite läßt – das ist spannender als alle Beiträge auf Instagram, Facebook und Twitter zusammen.