© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 32/22 / 05. August 2022

Legal wider das Gesetz
Politik machtlos: Wie von Griechenland anerkannte Flüchtlinge bei uns erneut Asyl beantragen können
Christian Vollradt

Das Problem ist nicht neu. Neu ist höchstens, daß seine Lösung im Laufe der Jahre immer unwahrscheinlicher geworden ist. Und das ist der eigentliche Skandal. Das Problem heißt illegale Sekundärmigration, und es verdeutlicht wie unter einem Brennglas das Scheitern dessen, was schönfärberisch als gemeinsame europäische Asylpolitik bezeichnet wird. Von Sekundärmigration spricht man, wenn Personen, die in einem Mitgliedsstaat des Schengenraums bereits als Flüchtlinge registriert und mit einem entsprechenden Schutzstatus anerkannt sind, in einen anderen Mitgliedsstaat reisen und dort erneut einen Asylantrag stellen. 

Doppelt um Asyl zu ersuchen ist nach EU-Recht illegal. Und dennoch sind die deutschen Behörden bei der Einreise der Betreffenden weitgehend machtlos. Denn nach demselben EU-Recht genießen die in einem Mitgliedsland anerkannten Flüchtlinge eine zeitlich begrenzte Reisefreiheit von 90 Tagen innerhalb des Schengenraums. Konkret geht es um solche aus Griechenland. Die dort gelandeten Afghanen, Syrer oder Iraker erhalten relativ zügig eine Anerkennung als Flüchtling. Dann beantragen sie die ihnen rechtlich zustehenden Reisedokumente für den Schengenraum. 

In den deutschen Behörden ist man sich sicher, daß Athen solche Dokumente bereitwillig ausstellt; einerseits formell korrekt, andererseits aber auch im Bewußtsein, daß diese mißbräuchlich genutzt werden, um in Deutschland erneut Asyl zu beantragen. Nach dem Motto: Hauptsache wir sind das Problem los. 

„Wir wollen den Mißbrauch 

der visafreien Reise verhindern“

Ob mit Flixbus oder Flugzeug, die Einreise nach Deutschland ist einfach. Denn selbst wenn diese Migranten an der Grenze kontrolliert werden, kann die Bundespolizei sie aus rechtlichen Gründen nicht abweisen, denn der – mögliche bzw. wahrscheinliche – illegale Zweck der Einreise ist zu diesem Zeitpunkt noch nicht nachweisbar. 

Dieses Vorgehen stieß schon der vorigen Regierung auf, zu lösen vermochte sie es nicht. Der damalige Bundesinnenminister Horst Seehofer (CSU) versuchte es seinerzeit – vergeblich – mit einem Protestbrief; Hauptadressat war die EU-Kommission, zur Kenntnis ging er auch an die griechische Regierung. Einem Bericht der Funke-Mediengruppe zufolge schrieb Seehofer darin von Erkenntnissen über eine „illegale Infrastruktur“, mit der die illegale Weiterreise von in Griechenland anerkannten Flüchtlingen gefördert werde. Dies untergrabe „das Vertrauen in ein funktionierendes gemeinsames europäisches Asylsystem“, so der Vorwurf. Diesen Trend müsse man „gemeinsam bekämpfen“, forderte der damalige deutsche Ressortchef in dem Schreiben mit Datum 1. Juni 2021. 

Geändert hat sich seitdem praktisch nichts. Außer daß es nicht mehr wie zum Zeitpunkt der Abfassung des Briefs um insgesamt etwa 17.000 illegale Sekundärmigranten geht, sondern um eine stattliche Anzahl mehr. Im Hause von Seehofers Nachfolgerin Nancy Faeser (SPD) sprach man Ende Mai von knapp 49.000, tatsächlich dürfte die Grenze der 50.000 bald überschritten sein. Das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge teilte auf Anfrage der JUNGEN FREIHEIT mit, allein im Jahr 2021 hätten „insgesamt 29.508 Personen, die bereits über einen Schutztitel in Griechenland verfügten, einen Asylantrag in Deutschland“ gestellt. Vom 1. Januar bis zum 30. Juni 2022 kamen noch einmal insgesamt 7.954 Personen dazu.

Begünstigt wird diese Sekundärmigration auch durch Entscheidungen deutscher Verwaltungsgerichte. Denn die haben in mehreren Fällen, in denen die Behörden hierzulande eine Rücküberstellung illegaler Sekundärmigranten vornehmen wollten, entschieden, daß dies aufgrund der Zustände in griechischen Einrichtungen rechtlich nicht zulässig sei. Es bestehe, so der Tenor solcher Entscheidungen, die Gefahr, daß in Griechenland „elementarste Bedürfnisse wie Bett, Brot und Seife“ nicht gestillt würden. 

Schon zu Seehofers Amtszeit hatte ein Sprecher des Innenministeriums betont, es sei „natürlich im Interesse der Bundesregierung, daß die Schutzsuchenden in dem Land, in dem sie ihren Asylantrag gestellt haben, das Verfahren durchlaufen und nicht von einem europäischen Land ins nächste gehen, um dort einen neuen Asylantrag zu stellen“. Aufgrund der Gerichtsentscheidungen seien „Rückführungen nach Griechenland nicht mehr möglich, so daß wir weiterhin daran arbeiten, die Griechen zu unterstützen, die Situation vor Ort für die Schutzsuchenden zu verbessern“. Soweit die Theorie. Denn an der Lage dort hat offenbar auch die Tatsache nichts geändert, daß Athen allein zwischen 2014 und 2020 mehr als 95 Millionen Euro zumeist aus Brüsseler Töpfen erhalten hat, um mittels Notprogramm die Versorgung der Migranten zu verbessern. 

Die Ampel-Parteien haben sich das Vorgehen gegen diesen Mißstand sogar in den Koalitionsvertrag geschrieben – quasi als kleine Peitsche im Angesicht des reichlich vorhandenen einwanderungspolitischen Zuckerbrots (Stichworte „Migrationspaket“ und „Chancen-Aufenthaltsrecht“ für Geduldete): „Wir wollen Sekundärmigration in der EU reduzieren. Dazu wollen wir den Mißbrauch der visafreien Reise verhindern und durch ein geordnetes Relocation-Programm dazu beitragen, daß Außengrenzstaaten die Bedingungen für Geflüchtete in ihren Ländern verbessern.“ In der Praxis wollen viele dieser Geflüchteten aber ihre Lebensbedingungen weiterhin vor allem dadurch verbessern, daß sie nach Deutschland ziehen. 

Zudem hat die griechische Regierung das deutsche Angebot, die Unterbringung der als Flüchtlinge anerkannten Einwanderer in Hotels dort zu finanzieren, abgelehnt. Begründung: Man könne diese Leute nicht besser stellen als einheimische Hilfsbedürftige. Tatsächlich ächzen noch immer viele Griechen unter der Wirtschaftskrise des Landes, betroffen sind auch Angehörige der Mittelschicht.

Beendet hat die SPD-geführte Bundesregierung unterdessen das Spiel auf Zeit – oder besser: die Vogel-Strauß-Methode. Denn bis 2021 wurden die Asylanträge der Sekundärmigranten vom Bamf faktisch nicht bearbeitet. Oder um das schönste Amtsdeutsch des Pressesprechers der Nürnberger Behörde zu zitieren: Man habe „bei Personen, denen bereits in Griechenland Schutz zuerkannt wurde und die nach der Einreise in die Bundesrepublik Deutschland erneut einen Asylantrag gestellt haben, eine Entscheidung zunächst rückpriorisiert“. Offenbar geschah das in der Absicht und trügerischen Hoffnung, doch noch eine Übereinkunft mit Griechenland zu erzielen, um die Betreffenden dahin überstellen zu können. Aber Pustekuchen.

„Ultimativer Dammbruch 

im europäischen Asylrecht“

Seit April 2022 wurde die Entscheidungstätigkeit in den Fällen dieser Doppel-Antragsteller wieder aufgenommen. Der Bamf-Sprecher gegenüber der JF: „Im ersten Halbjahr 2022 wurden so 15.153 Entscheidungen über Asylanträge von Personen getroffen, die bereits über einen Schutztitel in Griechenland verfügten.“ Und das Ergebnis? „1.879 dieser Anträge wurden nicht positiv beschieden.“ Mit anderen Worten: 13.274 Personen, die nach EU-Recht eigentlich überhaupt gar keinen Asylantrag in Deutschland stellen durften, haben einen Status erhalten, der ihnen – vorerst – den Verbleib in Deutschland erlaubt. Obwohl sie laut den geltenden europäischen Asyl-Richtlinien nach Griechenland gehören. 

Für die Opposition ein gefundenes Fressen: „Die Ampel-Regierung unternimmt rein gar nichts, um die Einreise und die eigentlich unzulässige, doppelte Asylantragsstellung in Deutschland zu unterbinden“, kritisierte der Innenexperte der Unionsfraktion im Bundestag, Alexander Throm (CDU), in den Zeitungen der Funke-Mediengruppe. Und er fordert, den Druck auf Athen zu erhöhen, damit dort „für ausreichende Sozialstandards“ gesorgt werde. Wenn Geld nicht helfe, müsse „auf Initiative Deutschlands und anderer betroffener Staaten die visafreie Reise in Europa für anerkannte Flüchtlinge eingeschränkt werden“, so Throm.

Doch während die Union sich vorhalten lassen muß, die Sache während ihrer Regierungsverantwortlichkeit ja auch nicht gerade im deutschen Interesse gelöst zu haben, braucht die AfD mit Superlativen nicht zu geizen: „Das ist der ultimative Dammbruch im europäischen Asylrecht – sämtliche Asylbewerber innerhalb der EU können so als Unterstützungsfälle nach Deutschland weitermigrieren“, schlußfolgert der innenpolitische Sprecher ihrer Bundestagsfraktion, Gottfried Curio. Wie schon Angela Merkel 2015, so ignoriere Innenministerin Faeser „geltendes Recht und Gesetz mutwillig und provoziert so eine weitere erhebliche Migrationswelle“. Und so fordert der Bundestagsabgeordnete namens der AfD-Fraktion „angesichts des binnen-europäischen Asyltourismus die effektive Sicherung der deutschen Grenzen“.

Bundesaußenministerin Annalena Baerbock (Grüne) äußerte zwar bei ihrem jüngsten Besuch deutliche Kritik an der Asylpolitik Athens, aber lediglich bezogen auf die Vorwürfe, Einwanderer würden an der EU-Außengrenze illegal zurückgewiesen werden. Mit solchen sogenannten „Pushbacks“ würden laut Medienberichten griechische Grenzschützer systematisch Migranten zurück in die Türkei drängen, damit diese in Griechenland und somit in der EU kein Asyl beantragen können. „Wenn wir da wegschauen, dann gehen unsere Werte im Mittelmeer unter“, sagte die deutsche Chef-Diplomatin nach dem Besuch eines Flüchtlingslagers in der Nähe von Athen.

Doch Griechenland hat wie die meisten anderen Mittelmeer-Anrainerstaaten auch ein verstärktes Interesse daran, daß erstens möglichst wenige neue Migranten ins Land kommen und zweitens diejenigen, die bereits da sind, möglichst woanders hin weiterziehen. Dabei setzt man für das erste auf die „Pushbacks“, fürs zweite auf die Sekundärmigration Richtung Nordwesten. Was die deutsche Bundesregierung – ziemlich hilflos – als Verstoß gegen EU-Recht anprangert, hält Athen offenbar nicht für ein Problem, sondern für die Lösung. 

Nicht ganz zu Unrecht, betrachtet man die nackten Zahlen: Während in Deutschland nun knapp 50.000 Personen, denen bereits in Griechenland Schutz zuerkannt wurde, faktisch wie Erstantragsteller im Asylsystem stecken und Anspruch auf entsprechende finanzielle Zuwendungen haben, leben aktuell gerade mal noch etwa 2.000 Migranten in den Flüchtlingslagern der östlichen Ägäis.