© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 32/22 / 05. August 2022

Zwischen Reichstag und Kanzleramt
Kleiner wird’s erst mal nicht
Paul Rosen

Zu den schönsten Tätigkeiten in Deutschland gehört die eines Bundestagsabgeordneten. Jeden Monat gibt es Diäten in Höhe von 10.327,29 Euro. Dazu kommen eine steuerfreie Kostenpauschale von 4.583,39 Euro, eine Bahncard erster Klasse für die Deutsche Bahn, kostenlose Inlandsflüge und eine großzügige Büroausstattung mit Laptops, Tablets und Telefonen – alles Dinge, für die Otto Normalverbraucher viel Geld ausgeben muß, das er bald nicht mehr hat, wenn er die Nebenkostenabrechnung erhalten haben wird. Nach 27 Jahren im Bundestag erhält ein Abgeordneter eine Altersrente in Höhe von etwa 67 Prozent seiner früheren Diäten. Den Wert von 67 Prozent können Arbeitnehmer auch nach 45 Jahren harter Arbeit nicht erreichen. 

Doch für viele Volksvertreter ziehen dunkle Wolken am Himmel auf. Denn der auf 736 Abgeordnete aufgeblähte Bundestag soll von der nächsten Wahl an deutlich verkleinert werden, was bedeutet, daß 138 der bisherigen Abgeordneten auf keinen Fall im nächsten Bundestag mehr dabeisein werden. Dann heißt es Abschied zu nehmen von den Privilegien und Vorteilen und wieder einer normalen Arbeit nachzugehen, sofern das Rentenalter noch nicht erreicht ist.

Die Parteien der Ampelkoalition haben sich auf ein Wahlrechtsmodell verständigt, das die Zahl der Abgeordneten auf 598 beschränken soll. Allerdings wird das neue Wahlrecht komplizierter ausfallen als das bisherige mit seinen Überhang- und Ausgleichsmandaten. Kernpunkt der Neuregelung ist, daß der Gewinner eines Direktmandats nicht unbedingt sein Mandat erhalten wird. Denn wenn seine Partei bei den Zweitstimmen bundesweit schlechter abschneidet und ihr somit über die vielen Direktmandate mehr Bundestagssitze zustehen würden als es eigentlich nach den Prozenten angebracht wäre, sollen Wahlkreisgewinner mit den schlechtesten Ergebnissen nicht mehr in den Bundestag einziehen. Die Partei wird dadurch auf ihr Zweitstimmenergebnis geschrumpft. Die Wähler sollen für einen solchen Fall auf dem Stimmzettel bereits einen Ersatzkandidaten ankreuzen dürfen. Bisher werden so lange zusätzliche Mandate verteilt, bis das prozentuale Zweitstimmenergebnis abgebildet ist.  

Während der SPD-Innenpolitiker Sebastian Hartmann von einem „minimalinvasiven Eingriff“ spricht, nennt CSU-Landesgruppenchef Alexander Dobrindt das Koalitionsmodell „Wahlbetrug mit Ansage“. Wenn direkt gewählten Abgeordneten der Einzug in den Bundestag verwehrt bleibe, untergrabe das die demokratischen Grundlagen der Wahl. CDU/CSU-Fraktionschef Friedrich Merz drohte bereits mit der Anrufung des Bundesverfassungsgerichts, sollte die Koalition ihr Modell durchsetzen.

Ob es dazu kommt, ist fraglich. Auch in der Koalition haben viele Abgeordnete besonders der SPD nachgerechnet und ermittelt, daß es sie schwer treffen könnte. So steht die Frage im Raum, ob Abgeordnete bereit sind, sich selber abzuschaffen. Bundestagsvizepräsident Wolfgang Kubicki (FDP) bezweifelt dies: „Das ist meine Lebenserfahrung.“