© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 32/22 / 05. August 2022

Schlafwandeln in den Kollaps
Nigeria: Terror und Entführungen erschüttern das westafrikanische Land in den Grundfesten
Marc Zoellner

Für Gani Adams zeichnet sich derzeit ein äußerst düsteres Bild der Zukunft seiner nigerianischen Heimat ab: „Unser Land schlafwandelt in den Zusammenbruch“, wird der einflußreiche Politiker aus dem Südwesten Nigerias nicht müde zu betonen. „Abuja“, die Hauptstadt Nigerias, habe „den Kampf gegen die Terroristen verloren“ und überhaupt scheine es, „als gäbe es keine Regierung mehr in diesem Land“. Nicht grundlos warnt Adams in derart drastischen Tönen. Seit Oktober 2017 herrscht der gelernte Innendekorateur als „Aare Ona Kakanfo“, als traditioneller „Oberster Heerührer“, über das Volk der Yoruba, neben den Hausa und den Igbo eine der drei dominierenden Ethnien im Vielvölkerstaat Nigeria.

 Bislang war das Stammland der Yoruba an der Grenze zum Staat Benin von den gewaltsamen religiösen und ethnischen Auseinandersetzungen, die Nigerias Innenpolitik seit mehr als einem Jahrzehnt bestimmen, größtenteils verschont geblieben. „Informationen erreichten mich jedoch heute“, erklärte Adams Ende Juli vor der Presse, „daß Terroristen mit verschiedenster Bewaffnung in die Wälder unserer Bundesstaaten eingedrungen seien und Angriffe auf uns im Südwesten planen.“

Gefahr einer Islamisierung über Nigerias Grenzen hinaus  

Daß mit Warnungen wie dieser nicht leichtfertig umgegangen werden darf, bewiesen selbige Terroristen in den vergangenen Monaten mit einer ganzen Reihe blutiger Überfälle auf die staatliche Infrastruktur Nigerias: Ende März überfiel eine Gruppe schwer bewaffneter „Banditen“, wie der nigerianische Staat die verschiedensten Terrorgruppen auf seinem Gebiet offiziell benennt, einen Überlandzug im Bundesstaat Kaduna und entführten rund sechzig Passagiere, um von der nigerianischen Regierung sowie den Angehörigen der Opfer Lösegeld in Millionenhöhe zu erpressen. Nach einer ersten Zahlung von umgerechnet rund einer Viertelmillion Euro wurden vier der Entführten schließlich Ende Juli freigelassen. 

Der nigerianischen Armee sind derzeit jedoch die Hände gebunden; an zu vielen Fronten flammen die Kämpfe erneut auf. Nur zwei Wochen vor der Veröffentlichung eines Foltervideos durch die Zugentführer stürmten rund 300 Terroristen das Gefängnis der Kleinstadt Kuje, lediglich eine halbe Fahrstunde von der nigerianischen Hauptstadt entfernt, und befreiten Hunderte Anhänger der Terrorgruppe „Boko Haram“. 

Bei diesem konzertierten Überfall auf die Strafanstalt kam nur ein einziger Wachmann ums Leben. „Wir hatten einen ganzen Zug des Nigerianischen Heeres mit modernsten Waffen zum Zeitpunkt des Angriffs stationiert“, zeigte sich der nigerianische Innenminister Rauf Aregbesola tags darauf bestürzt. „Dazu Elitekräfte der Nigerianischen Polizei, Beamte der Nigerianischen Sicherheit und der Zivilverteidigung sowie Beamte der Nigerianischen Gefängnisbehörden.“ Bis auf den getöteten Wachmann leistete jedoch kein einziger der Soldaten Gegenwehr, wie spätere Untersuchungen ergaben.

Zum Gefängnisausbruch bekannte sich der Islamische Staat in der Westafrikaprovinz (ISWAP), der lokale Flügel des „Islamischen Staats“ (IS). Die Lösegeldforderungen bezüglich der entführten Zugpassagiere verhandelt derzeit die „Ansaru“-Gruppe; die „Vorhut für den Schutz der Muslime in Schwarzafrika“. 

Beide Fraktionen hatten sich in den vergangenen Jahren aufgrund innerer Differenzen von der Boko Haram abgespalten. Alle drei Gruppierungen eint jedoch ein radikalislamisches Weltbild, die Glorifizierung des „Heiligen Kriegs“ gegen sogenannte „Ungläubige“ – dazu zählen Angehörige anderer Religionen ebenso wie moderate Muslime – sowie die Bestrebung der Errichtung eines streng islamischen Gottesstaates über die heutigen Grenzen Nigerias hinaus. Ihren Gewalttaten fielen allein seit 2020 über 18.000 Menschen zum Opfer.

Zunutze kommt den Terrorgruppen die ethnische Diversifizierung des mit 200 Millionen Einwohnern bevölkerungsreichsten Staates des afrikanischen Kontinents: Über 250 Völker leben in  Nigeria; über 500 Sprachen werden teils auf engstem Raum parallel gesprochen. Der Norden Nigerias ist muslimisch dominiert, im Süden überwiegen christliche Glaubensgemeinden. Nach dem blutigen Biafra-Krieg, der von 1967 bis 1970 tobte, streben vereinzelte Organisationen im Südosten Nigerias noch immer teils gewaltsam nach der Unabhängigkeit ihrer Region „Biafra“. 

Der Nordwesten wiederum wird von Banden marodierender Krimineller durchstreift, die sich in ihren Lagern in den undurchdringlichen Wäldern der Bundesstaaten Zamfara und Sokoto verschanzt haben. Erst im vergangenen Jahr zählten lokale Behörden über hundert derartige Lager mit über 30.000 bewaffneten Kriminellen allein in Zamfara. Die hiesige Verwaltung kapituliert vor der zahlenmäßigen Übermacht der Bewaffneten und setzt „aufgrund des Mangels an Personal im Sicherheitssektor sowie des sehr schlechten Geheimdienstnetzwerkes“, wie Zamfaras Gouverneur Bello Matawalle vergangenes Jahr konstatierte, stattdessen auf Dialog und Verhandlungen mit den einheimischen Entführern. 

Lösegeldforderungen 

sind ein lukratives Geschäft 

Diese erfreuen sich seitdem über hohe Lösegeldsummen zum weiteren Waffenerwerb. Wie der Banditenanführer Bello Usman, der als Kind während eines Überfalls von Hausa-Extremisten auf die Viehherde seines Vaters seine Familie verlor und seitdem in den Wäldern lebt, stammt ein Großteil der Bandenmitglieder aus der ethnischen Minderheit der Fulbe, die sich von den Hausa wirtschaftlich und politisch marginalisiert fühlen. Ihr Kampf ist laut Selbstbeschreibung auch ein „Krieg gegen Nigeria“.

Hinsichtlich der Banditen und Separatisten bietet sich den radikalislamischen Terrorgruppen ein schier unerschöpfliches Reservoir kampferprobter neuer Rekruten zum Auffüllen ihrer eigenen Verluste im Norden. Dem ISWAP ermöglichte dies zuletzt einen blutigen Anschlag weit abseits seines eigenen Terrains – nämlich im südwestlichen Bundesstaat Ondo, wo Islamisten Anfang Juni eine katholische Kirche angriffen und vierzig Gläubige töteten. In ihrem jüngsten Video drohte die Ansaru-Gruppe gar mit der Entführung des Präsidenten Muhammadu Buhari. 

Wie der Yoruba-Heerführer Gani Adams glaubt seitdem auch der Jugendvorsitzende der nationalen Igbo-Vereinigung „Ohanaeze Ndigbo“, Mazi Okwu Nnabuike, kaum mehr an eine Zukunft Nigerias: „Wie immer wird diese Drohung von der Regierung mit Leichtsinn behandelt. Diese Umstände lassen die Angst davor wachsen, daß es einen großen Plan geben könne, unser Land zu islamisieren, indem man es einfach den Terroristen übergibt.“