© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 32/22 / 05. August 2022

Gegen alle Gesetze
Geldpolitik: Die EZB will Schuldnern helfen, aber auch den Leitzins erhöhen – ein Kuhhandel?
Joachim Starbatty

Die deutschen Staatsschulden eilen von Rekord zu Rekord. 2,3 Billionen Euro an Krediten haben Bund, Länder, Gemeinden und Sozialversicherung bis Jahresende 2021 angesammelt. Seit dem berühmt gewordenen Spruch des früheren EZB-Präsidenten Mario Draghi am 26 Juli 2012 in London, die EZB werde die Eurozone zusammenhalten – „whatever it takes“, was auch immer es kostet“ – ist die Politik der Notenbank überdeterminiert. Neben dem vertraglich vorgegebenen Auftrag, den Geldwert des Euro stabil zu halten, will sie auch die Eurozone beisammenhalten. 

Steigende Zinsen – um einer inflationären Tendenz entgegenzuwirken – hätten überschuldeten Mitgliedstaaten den Zugang zu billigem Geld verbaut, die Zinslast aus den Staatsschulden erhöht und ihre Kreditwürdigkeit an den Finanzmärkten herabgesetzt. Dies hätte ihren Euro-Austritt wahrscheinlich gemacht. Deshalb hat die EZB die Gefahren der Inflation nicht sehen wollen. 

Um diese Haltung vor der Öffentlichkeit zu begründen, mußte sie die sich abzeichnende Inflation kleinreden oder als vorübergehend deklarieren. Als die schleichende Geldentwertung sich nicht mehr verleugnen ließ und mittlerweile zu einer trabenden Inflation wurde, war klar geworden, daß die EZB von ihrer Stillhaltepolitik abrücken muß.

In Erwartung steigender Zinsen stießen Anleger italienische Staatsanleihen ab, weil sie wegen der hohen Verschuldung Italiens und einer nahenden Regierungskrise mit deren Kursverfall rechneten. Ein Ausscheiden aus der Eurozone war wieder möglich. Daraufhin entschloß sich die Notenbank, gezielt Italiens Staatsanleihen aufzukaufen, um den Renditeabstand zwischen den deutschen und italienischen Papieren einzuebnen. Dies sollte der „Fragmentierung des Anleihemarktes“ entgegenwirken und so die Geldpolitik stützen.

Der gezielte Ankauf von Staatsanleihen einzelner Länder verstößt jedoch gegen das Verbot, Staatsschulden der Euro-Mitglieder zu finanzieren. Eigentlich. Denn die jüngste Entscheidung des Rates der EZB schafft eine Ausnahme. Der Rat, dem die Mitglieder des EZB-Direktoriums und die 19 Präsidenten der nationalen Zentralbanken angehören, billigte der Notenbank ein Instrument (Transmission Protection Instrument; TPI) zu, das es ihr erlaubt, bei Turbulenzen an den Finanzmärkten Staatsanleihen derjenigen Staaten aufzukaufen, deren Renditeabstand zu besser bewerteten, also meist deutschen Staatsanleihen zugenommen hatte. Marktfragmentierung nennt die EZB einen solchen Fall, den sie zu verhindern sucht. 

Doch volkswirtschaftlich drücken die Renditeabstände die Einschätzungen der Marktteilnehmer in die Nachhaltigkeit der Staatsfinanzierung eines Mitglieds aus. Bei einem solchen Fall von einer nicht mehr akzeptablen Fragmentierung zu sprechen sei eine PR-Idee der EZB, kommentiert Hans-Werner Sinn, der frühere Präsident des Ifo-Instituts. Die Währungsunion könne nur existieren, wenn Staaten, die sich höher verschulden, höhere Zinsen zahlen müßten. Doch ist der Schuldenstand einiger Mitgliedstaaten dermaßen hoch, daß bei einem steigende Zinsniveau ihre Zahlungsfähigkeit gefährdet und ein Ausscheiden aus der Eurozone unvermeidbar wäre.

Die totgeglaubte Lohn-Preis-Spirale ist wieder lebendig

Daher ist in der Sondersitzung des EZB-Rates das TPI-Instrument zum gezielten Ankauf von Staatsanleihen überschuldeter der Mitgliedstaaten auch mit Billigung des Vertreters Deutschen Bundesbank beschlossen worden, obwohl er sich zuvor gegen den Ankauf italienischer Staatsanleihen ausgesprochen hatte.

Zeitgleich zum TPI-Beschluß wurden überraschend die Leitzinsen um einen halben Prozentpunkt erhöht und die Negativzinsen bei Hinterlegung von Geldern bei der EZB abgeschafft. Ob es sich hier um ein Tauschgeschäft handelt – Zustimmung zu diesem Instrument gegen einen höheren Zinsanstieg – läßt sich nur vermuten. Mit Sicherheit lassen sich dagegen dessen Wirkungen vorhersehen: Der gezielte Ankauf von Staatsanleihen signalisiert den Marktteilnehmern, daß die EZB am längeren Hebel sitzt, weil sie beliebig viel Geld drucken kann, um den Kurs von Staatsanleihen zu manipulieren. Das wirkt – zunächst einmal.

Dagegen sind die Auswirkungen einer Zinserhöhung um einen halben Prozentpunkt ungewiß. Daß sich so die Inflation und vor allem die Inflationserwartungen dämpfen lassen, ist unwahrscheinlich. Der Anstieg der industriellen Erzeugerpreise um etwa 30 Prozent wird sich über kurz oder lang in den Verbraucherpreisen niederschlagen. Auch werden sich die Gewerkschaften gezwungen sehen, für die Beschäftigten zumindest einen Inflationsausgleich bei den Lohnverhandlungen herauszuholen. Den damit verbundenen Anstieg der Lohnstückkosten werden die Unternehmen an die Verbraucher weitergeben, um nicht selbst zahlungsunfähig zu werden. Die totgeglaubte Lohn-Preis-Spirale ist wieder lebendig geworden.

Obwohl im langfristigen Vergleich ein Leitzins in Höhe von 0,5 Prozent immer noch verschwindend gering ist, können die damit verbundenen Auswirkungen in anderer Hinsicht erheblich sein. Damit werden die Marktteilnehmer getroffen, die sich langfristig an Nullzinsen gewöhnt und entsprechend disponiert haben. Das spüren diejenigen Banken, die in dem Glauben an eine ständige Liquiditätszufuhr Kredite zu Niedrigstzinsen an Zombie-Unternehmen ausgegeben haben. Diese Banken laufen nun Gefahr, als Zombie-Banken von ihren Staaten gerettet werden zu müssen. Zombie-Staaten drohen.

Dann sieht sich die EZB wieder gezwungen, diese Staaten mit frisch gedrucktem Geld zu retten. So führt die anhaltende Finanzierung von Staatsschulden durch die Zentralbank unweigerlich zu Inflation; Hyperinflation nicht ausgeschlossen. Das wird eine geschichtsträchtige Lektion drüber sein, wie es einer Währungsunion ergeht, wenn die Politiker glauben, entgegen den ökonomischen Gesetzen handeln zu können. Dies alles droht uns Bürgern, weil Frankreich und Italien die stabilitätsorientierte Deutsche Bundesbank und die von ihr gesteuerte D-Mark loswerden wollten.






Prof. Joachim Starbatty ist Ökonom und war von 2014 bis 2019 EU-Parlamentsabgeordneter.