© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 32/22 / 05. August 2022

Schweigen in vielen Worten
Völkermord ukrainischer Nationalisten in Wolhynien: Die von Nützlichkeitserwägungen zugedeckte Wunde zwischen Polen und der Ukraine eitert unter der Narbe weiter / Ukraine verweigert Exhumierungen der sterblichen Überreste
Paul Leonhard / Christian Rudolf

Wenn polnische Geschichtspolitik in die Sackgasse Politischer Korrektheit fährt, gibt es immer noch eine Ausfahrt: die Schuld den Deutschen geben. So jüngst in Warschau geschehen. Polens Premier Mateusz Morawiecki sprach auf der offiziellen staatlichen Gedenkfeier für die polnischen Opfer der Massaker ukrainischer Nationalisten während des Zweiten Weltkriegs. Für die polnische Regierung ein ungewohnt heikles Unterfangen. Von Kiew gibt es seit Jahren kein Entgegenkommen. Das 2017 durch ukrainische Behörden ausgesprochene Verbot, nach den Verscharrten zu suchen, die sterblichen Überreste zu exhumieren und ordentlich zu bestatten, ist nach wie vor in Kraft. Die Inspiratoren und Täter „ethnischer Säuberungen“ wie Stepan Bandera (siehe Seite 20), Dmytro Kljatschkiwskyj oder Roman Schuchewytsch gelten in der West- und Zentralukraine als Unabhängigkeitskämpfer und Nationalhelden. Andererseits ringt die überfallene Ukraine heute um ihre staatliche Existenz, leistet Warschau seinem Nachbarn jede erdenkliche Hilfe gegen Moskau, profiliert sich Polen als Anwalt ukrainischer EU-Aspirationen und gleichzeitig als Regionalmacht in Ostmitteleuropa. Konfliktstoff aus der Vergangenheit kommt ungelegen. Der polnische Präsident Andrzej Duda besuchte Kiew zuletzt dreimal und pflegt mit seinem ukrainischen Amtskollegen Wolodymyr Selenskyj ein so herzliches Einvernehmen in ukrainischen Belangen, daß Kritiker angesichts dessen spöttelten, ob die Ukraine jetzt zwei Präsidenten habe.

„Dieses Verbrechen des Völkermords ist ausnehmend barbarisch und einzigartig in seiner Bestialität“, hob Morawiecki hervor. Schuld daran trüge aber auch Deutschland: „Wer beherrschte damals jene Landstriche? Die Deutschen. Als seinerzeitige „Herren über Leben und Tod“ in den besetzten Gebieten seien sie „gleichermaßen verantwortlich für das Verbrechen“, so der Regierungschef unseres EU-Partnerlandes.

Zwischen 1939 und 1947 ermordeten Bandera-Terroristen der Organisation Ukrainischer Nationalisten (OUN-B) und ihr bewaffneter Arm, die Ukrainische Aufstandsarmee (UPA) zusammen mit aufgehetzten ukrainischen Landmilizen in Wolhynien, Polesien und Ost-Galizien insgesamt mehr als 130.000 polnische Zivilisten, vom Säugling bis zum Greis, und zerstörten dabei planvoll mehrere tausend polnische Siedlungen, Zehntausende von Bauernhöfen und Hunderte Kirchen. Sie zerhackten die Dorfbewohner mit Beilen, zersägten oder verbrannten sie lebendigen Leibes, schlitzten Schwangeren die Bäuche auf, kreuzigten Bauern, erwürgten Familienväter mit den eigenen Eingeweiden, zwangen Kinder, bei sexueller Folter und Abschlachtung ihrer Mütter und Schwestern zuzusehen. Die Massaker nahmen schließlich solche Ausmaße an, daß die NS-Besatzungsbehörden im August 1943 allen Polen befahlen, Dörfer und Siedlungen zu verlassen und in größere Städte zu ziehen.

Sprachlosigkeit zu volkspolnischer Zeit, Versäumnisse heute

Wer dennoch blieb, bezahlte das meist mit dem Leben. Da die polnische Exilregierung in London gegenüber den Westalliierten nach einem deutschen Rückzug auf die Rückgabe Wolhyniens und Ostgaliziens an Polen bestand, beschloß der ukrainische Widerstand, der ebenfalls jene Gebiete für eine unabhängige Ukraine einforderte, Tatsachen zu schaffen. „Beim Abzug der deutschen Armeen sollten wir diesen günstigen Moment nutzen, um die gesamte männliche Bevölkerung im Alter von 16 bis 60 Jahren zu liquidieren“, heißt es in einer geheimen Anweisung von UPA-Kommandeur Kljatsch-Kiwskyj vom Juni 1943. Diese wurde vom polnischen Historiker Władysław Filar in SBU-Archiven entdeckt und in seinem Buch „Vor der Aktion Weichsel war Wolhynien“ veröffentlicht.

Rechtlich gehörten Täter und Opfer als Bürger der polnischen Zwischenkriegsrepublik an. Das Gebiet war erst von den Sowjets, dann von der Wehrmacht besetzt, bevor es am Ende wieder unter Moskaus Kontrolle geriet. Heute stellt dieser „Gewaltraum“ (Timothy Snyder) die westlichen Verwaltungsbezirke der Ukraine dar. In der Zeit des Kommunismus durfte über die Vorgänge in Wolhynien genausowenig gesprochen werden wie etwa über die NKWD-Massenmorde in Katyn, Miednoje und anderswo.

Letztlich massakrierten ukrainische Nationalisten nach unterschiedlichen Schätzungen mindestens 100.000 Menschen. Eine Zahl von bis zu 200.000 Ermordeten gibt das Interview-Heft „Die unvollendeten Messen von Wolhynien“ in polnischer Sprache an, das Experten und Augenzeugen zu Wort kommen läßt (Stettin 2021). Die genaue Opferzahl kennt niemand, denn von vielen hundert Mordstätten, an denen Polen, Juden, Tschechen und weitere nichtukrainische Minderheiten den Tod litten, konnten erst fünf Prozent untersucht werden. So beschrieb vor drei Jahren der Vizechef des polnischen Instituts für Nationales Gedenken das Ausmaß der Versäumnisse. Die über 100.000 Wolhyniendeutschen fielen nur deswegen nicht der UPA zum Opfer, weil sie zuvor schon vom NS-Regime ihrer Heimat beraubt und in den eroberten Warthegau zwangsumgesiedelt worden waren. Bei Racheaktionen der polnischen Heimatarmee (AK) wiederum kamen 15.000 bis 20.000 Ukrainer um.

Die Massenmorde der UPA endeten indes nicht 1944 mit dem Einmarsch der Roten Armee, sondern erst mit der Zerschlagung sämtlicher im Untergrund kämpfender ukrainischer Banden: während jener militärischen „Aktion Weichsel“ siedelte Polen 1947 rücksichtslos 150.000 ethnische Ukrainer, Bojken und Lemken aus dem Südosten der Volksrepublik Polen in das annektierte und entvölkerte Hinterpommern um.

„Die Grenzlandbewohner wurden zweimal ermordet, einmal durch Axthiebe und das zweite Mal durch Schweigen, und der zweite Tod war noch schrecklicher als der erste“, zitierte Morawiecki den Vater des bei der Gedenkfeier ebenfalls anwesenden Wolhynien-Aktivisten und Publizisten Tadeusz Isakowicz-Zaleski. Der bärtige Priester Tadeusz ist eine lebende Institution, ein antikommunistisches Schlachtroß aus der Solidarność-Zeit, verehrt bei den Nachkommen der UPA-Opfer, unbeliebt bei der Regierung. Die „jahrzehntelange Verschwörung des Schweigens“ müsse „gebrochen werden“, so der seit 2017 als Premier amtierende PiS-Politiker. „Ich werde nicht ruhen, bis wir das letzte Grab gefunden haben, die letzte Grabstätte der Ermordeten aus Wol­hynien und dem gesamten östlichen Grenzland.“ Isakowicz-Zaleski kommentierte solche Aussagen im Nachgang: „Worte und abermals nur Worte.“

Präsident Andrzej Duda hatte zuvor das gleiche zugesagt. „Die Wahrheit muß klar und deutlich ausgesprochen werden“ und: „Wir wollen Gräber!“ Den erstmals bei einem Wolhynien-Gedenktag erschienenen ukrainischen Botschafter mag es erleichtert haben, denn jene Sätze waren dann auch die einzigen, die Kiew zu etwas aufforderten. Ansonsten beschwor Duda die gemeinsamen Beziehungen, sprach viel von Freundschaft, Versöhnung und dem Verzicht auf Rache, die weder Polen noch der Ukraine nutze, sondern nur dem Kreml. „Dort, auf diesem schwierigen Tisch unserer Geschichte zwischen Polen und Ukrainern, wo so oft ein Gewehr, eine Axt, eine Mistgabel oder ein geknoteter Stock gelegen hat, wurde Brot hingelegt und eine Hand ausgestreckt, um zu helfen.“ Um sodann für Verständnis zu werben: Die Polen sollten anerkennen, daß „diejenigen, von denen wir wissen, daß sie Mörder waren, gleichzeitig an anderen Orten, zu anderen Zeiten und mit einem anderen Feind Helden für die Ukraine waren und oft durch die Hand der Sowjets starben, weil sie mit tiefer Überzeugung für eine unabhängige, freie Ukraine kämpften“. An die Familienangehörigen der Opfer gerichtet, appellierte der sonst nicht um nationale Töne verlegene Duda, zumal wenn es gegen Deutschland geht, mit „Besonnenheit“ aufzutreten.

Ein auf Twitter verbreiteter Videoschnipsel machte danach im Internet Furore – „Schande!“ lauteten noch die milderen Nutzerkommentare. Er zeigt den Ausschnitt einer Diskussion zwischen Isakowicz-Zaleski, weiteren Angehörigen und dem Präsidenten unmittelbar nach der Gedenkveranstaltung. Dem Priester und den Opferfamilien war es gelungen, Duda im Abgang abzupassen; dieser selbst war nicht auf die Familien zugegangen. Sie machten mit einem Plakat mit der Losung „Nicht nach Rache, sondern nach Erinnerung und Wahrheit rufen die Opfer des Völkermords“ auf ihr Anliegen aufmerksam.

Isakowicz-Zaleski erinnerte Duda an seine Versprechen aus dem Wahlkampf und daß in den sieben Jahren seiner Amtszeit nichts Greifbares geschehen sei, die Ukraine weiterhin verbiete, die sterblichen Überreste umzubetten. Duda mahnte die Familien, „sich in Worten zu mäßigen“ und beschwichtigte: „Jedes zuviel gesagte Wort dient weder uns noch der anderen Seite.“ In der Frage der Bestattungen führe man gegenwärtig „Gespräche“ – woraufhin Isakowicz-Zaleski ausrief: „Wie viele Jahre! Dreißig Jahre! (Präsident) Kaczyński hat’s versprochen, Sie haben’s versprochen!“

In dem konservativen Portal „dorzeczy.pl“ brachte der Wolhynien-Seelsorger die Dinge aus seiner Sicht auf den Punkt: „Die Situation ist, daß die ukrainische Seite nicht will und die polnische Seite nichts fordert, nicht für die Sache kämpft. Weder jetzt noch früher, als es noch keinen Krieg gab.“ In einem weiteren Fernsehinterview einige Tage nach jenem 11. Juli kam Isakowicz-Zaleski noch einmal auf Dudas Mäßigungsgebot zurück: Er könne sich nicht vorstellen, „daß der Präsident zu den Familien von Holocaust-Opfern, zu Juden oder den Katyn-Angehörigen gehe und ihnen sage, sie sollten ihre Worte mäßigen und überhaupt das Wort nicht ergreifen“. 

Polens Präsident fordert Opfer und  Nachkommen zu Mäßigung auf

Isakowicz-Zaleski erinnerte auch daran, daß Duda in seiner Rede vor dem ukrainischen Parlament am 22. Mai über den unaufgearbeiteten Völkermord „kein einziges Wort verloren“ habe. „Es brodelt gewaltig, und wenn es etwas gibt, das die polnisch-ukrainischen Beziehungen im Moment behindert, dann ist es die völlige Hilflosigkeit der Politiker, die dieses Problem nicht lösen können – und meiner Meinung nach auch nicht wollen“, befand Isakowicz-Zaleski. Entgegen mancher im Vorfeld der polnischen Gedenkfeiern geäußerten Erwartung und Zuversicht, so in der Gazeta Wyborcza, sprach Präsident Selenskyj weder das Thema Wolhynien an, noch hob er das Exhumierungsverbot auf. Beobachter wiesen darauf hin, daß Selenskyj als Russischsprachiger mit jüdischer Absammung aus dem Südosten der Ukraine – Selenskyj wuchs in Krywyj Rih auf – nie auf eine rechtsextreme Wählerschaft angewiesen war, auch nie ukrainischen Nationalismus unter dem Zeichen der OUN-UPA befürwortete; als dessen Gegner trat er freilich auch nie hervor.

An der Front des Krieges mit Putins Rußland werden heute jeden Tag neue ukrainische Helden geboren. Vorerst noch sitzen sie neben den Platzhaltern Bandera und Schuchewytsch im Pantheon, sie könnten diese aber in Zukunft entthronen und hinauswerfen. Gut möglich, daß dann auch der Völkermord der vierziger Jahre in Wolhynien eine Neubewertung erfährt.