© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 32/22 / 05. August 2022

GegenAufklärung
Kolumne
Karlheinz Weißmann

Winter is Coming I: Die Warnung der Außenministerin vor „Volksaufständen“, falls die Versorgung einbrechen sollte, irritiert. Zum einen, weil das Reden über einen „Tag X“, an dem die Infrastruktur kollabiert, weshalb man sich für den Ernstfall präparieren sollte, bis dato als sicherer Hinweis auf rechtsextremes Denken gewertet wurde. Zum anderen, weil Volksaufstände grundsätzlich ein Volk voraussetzen, womit die Frage naheliegt, ob hier jemand fahrlässig von der Existenz einer ethnisch-kulturellen Entität spricht, die als solche handlungsfähig ist, was auch als latent verfassungsfeindlich zu werten wäre.

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„Im Unterschied zu den linken deutschen Intellektuellen wissen wir noch, daß bei der Befreiung der faschistischen Konzentrationslager die sowjetischen Soldaten auf Befehl des Kreml die Baracken von Buchenwald zerlegt und in der Sowjetunion wie IKEA-Möbel wieder zusammengesetzt haben – als GULag-Lager. Wir wissen, daß die Gaswagen in der Sowjetunion erfunden wurden, schon vor Nazideutschland, und daß im heutigen Belarus, das, wie gesagt, derzeit praktisch von Rußland okkupiert ist, Tränengas in die Gefängniszellen von Anti-Kriegs-Demonstranten geleitet wird. Wir wissen, daß bei den Nürnberger Prozessen die Sowjetunion von Staatsanwalt Roman Rudenko vertreten wurde, der zur Zeit des Großen Terrors persönlich die Protokolle der Troikas unterschrieb, also außergerichtliche Tötungen absegnete. Obwohl Rudenkos Beteiligung an den stalinistischen Verbrechen bewiesen ist, wird im heutigen Rußland noch immer eine Medaille mit seinem Namen an Mitarbeiter der Staatsanwaltschaft verliehen – an jene also, die dieser Tage den eigenen Staatsbürgern, die gegen diesen Krieg auftreten, mit Repressionen sondergleichen begegnen. Wir wissen, daß 1937 in der Sowjetunion 111.000 Menschen als polnische Spione erschossen wurden, obwohl der polnische Geheimdienst auf der ganzen Welt kaum tausend Mitarbeiter hatte. Aber was bringt es uns, das alles zu wissen? Was haben wir davon, daß uns klar ist, daß Rußland in seinen frisch eroberten Gebieten genauso vorgehen wird wie immer?“ (Sasha Filipenko, weißrussischer Schriftsteller, in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung vom 6. Juli 2022)

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Winter is Coming II: Thomas Schmid hat in einem Beitrag für die Welt (Online-Ausgabe vom 22. Juli) zu mehr Gelassenheit gemahnt. Liberale Demokratien seien gar nicht so weich und nur auf das Wohl des einzelnen fixiert, wie allgemein behauptet werde. Als historisches Beispiel dient ihm Großbritannien, das sich 1940 trotz seiner Isolation und der verzweifelten Lage zum Weiterkämpfen entschlossen habe. Man darf allerdings bezweifeln, daß das an seiner Liberalität lag, eher wohl an einer immer noch sehr starken konservativen Substanz. Die hatte Hitler unterschätzt. Die Elite mochte angekränkelt sein und (in der berühmten Deklaration der Oxford Union von 1933) erklären, niemals wieder für König und Vaterland kämpfen zu wollen. Aber im Volk gab es noch genügend Selbstbehauptungswillen und Ehrgefühl. Entscheidende Sachverhalte, die Schmid übersieht. Wenn man nach einem Vergleich sucht, dann läge der mit dem in unsere Richtung sehr viel fortgeschritteneren Frankreich von 1940 näher. Nach dessen ruhmloser Kapitulation hat Antoine de Saint-Exupéry in seinem „Brief an einen General“ festgehalten, daß keine Nation ihre Freiheit und Unabhängigkeit erhalten werde, deren Bürger im Grunde nur ihren Aperitif in Ruhe trinken wollen.  

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Das kleine Shaftesbury in England trug einst den Beinamen „Stadt der Kirchen“. Von denen gab es vierzehn auf dem doch recht begrenzten Hügel Dorsets. Geblieben sind die Gebäude von fünfen: eine anglikanische, eine katholische, eine, die als Gesundheitszentrum, eine, die dem Schulunterricht dient, eine, die die Pizzeria beherbergt. Man kann darin sicher das Ergebnis von Säkularisierung sehen. Aber den ersten Schlag erhielten die Gotteshäuser bereits unter Heinrich VIII., der nach seiner protestantischen Kehre die großen Abteien ausplündern und zerstören ließ. Dem fiel auch das berühmte Kloster Shaftesburys zum Opfer. Das war bis dahin ein wichtiges Pilgerziel, denn dort verehrte man die Gebeine des Märtyrerkönigs Eduard. Die entgingen allerdings dem Furor und wurden im letzten Augenblick geborgen, versteckt und erst 1931 wiedergefunden. Etwas bizarr wirkt, was folgte. Denn die zuständigen Archäologen – die Brüder Wilson-Claridge – wurden nicht einig, was mit den Überresten geschehen sollte. Jahrzehnte blieben sie in einem Tresor verwahrt, bis die Entscheidung fiel, sie nicht der Anglikanischen, sondern der Orthodoxen Kirche zu übergeben, die Eduard (wie auch die Römisch-Katholische) als Heiligen verehrt. Heute hütet die Reliquien ein nach ihm benannter Orden in der Kirche St. Eduards des Märtyrers in dem kleinen Ort Woking der Grafschaft Surrey.

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Jan Fleischhauer berichtet in seiner Focus-Kolumne am 30. Juli von einem Gespräch beim Mittagessen mit dem Politologen Herfried Münkler. Der habe erklärt, es gebe drei Methoden ein gefährliches Volk ungefährlich zu machen: Appeasement, Abschreckung und Wohlstandszuwachs. Fehlt eine vierte: Gehirnwäsche.


Die nächste „Gegenaufklärung“ des Historikers Karlheinz Weißmann erscheint am 19. August in der JF-Ausgabe 34/22.