© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 32/22 / 05. August 2022

Über die toxische Wirkung von Zorn
Kino: In „Bullet Train“ möchten böse Menschen Brad Pitt aus der Bahn werfen. Der Film entgleist auf ganzer Linie
Dietmar Mehrens

Runaway Train“, „Money Train“, „Snowpiercer“: Züge und Filme – das war schon immer eine ertragreiche Beziehung. Auch Klassiker wie Hitchcocks „Der unsichtbare Dritte“ (1959) oder der James-Bond-Film „Liebesgrüße aus Moskau“ (1963) nutzten die dramaturgischen Möglichkeiten, die sich daraus ergeben, daß Freund und Feind, eingesperrt in Abteile und Waggons, einander nicht entkommen können. Aber auch Liebesgeschichten standen schon mit dem Bahnreiseverkehr in Verbindung, wie Robert De Niro und Meryl Streep in „Der Liebe verfallen“ (1984) eindrucksvoll unter Beweis stellten. Romantik spielt jedoch in dem neuen Film mit Hollywood-Star Brad Pitt keine Rolle. Seit der Scheidung von Angelina Jolie steht der 58jährige für Süßholzraspeleien nicht mehr zur Verfügung. Er mimt lieber harte Draufgänger.

Drastische Effekte,

parodistische Übertreibung

So einer ist der Auftragsmörder Ladybug („Marienkäfer“), der in Tokio planmäßig einen Zug besteigt, darin dann aber in einige außerplanmäßige Zwischenfälle verwickelt wird. An manchen davon ist er selbst schuld. Denn Ladybug soll einen gefährlichen Widersacher erledigen und einen geldschweren Metallkoffer an sich bringen. Doch im Shinkansen (englisch: „Bullet Train“) von Tokio nach Kyoto befinden sich auch Ladybugs Kollegen Lemon (Brian Tyree Henry) und Tangerine (Aaron Taylor-Johnson), bekannt als „die Zwillinge“ (obwohl einer von ihnen ein Weißer und der andere ein Schwarzer ist), eine Giftschlange und weitere gedungene Mörder mit eigener Agenda. Alles in allem beherbergt der Hochgeschwindigkeitszug in etwa so viele Schwerverbrecher wie der Orient-Expreß in Agatha Christies berühmtem Roman Mordverdächtige. In Kyoto wartet der skrupellose Verbrecherboß Weißer Tod (Michael Shannon) darauf, die Früchte der von ihm in Auftrag gegebenen Missetaten zu ernten. 

Zugrunde liegt dem Film der gleichnamige Roman des Japaners Kotaro Isaka, der im April auch auf deutsch erschienen ist. Einen gewissen Witz entfaltet die Geschichte dadurch, daß Ladybug telefonisch permanent in Verbindung steht mit seiner Chefin Maria (Sandra Bullock) und mit ihr Details aus Therapiegesprächen mit seinem Psychiater Barry erörtert. Dem verdankt er sowohl die Erkenntnis: „Trägt man Frieden in die Welt, kriegt man Frieden zurück!“ als auch die ihr widersprechende: „Manche Konflikte brauchen Waffen.“ Wenn es Dresche gibt, sinniert Ladybug über „die toxische Wirkung von Zorn“. Das macht „Bullet Train“ in seinen besseren Momenten zum sarkastischen Kommentar zu der moralischen Zwickmühle, in der sich Deutschlands kriegerische Ex-Pazifisten aus linken Identitätsgruppen gerade befinden. 

Erkennbar ist das Bemühen von Regisseur David Leitch, der seine Karriere in der Filmbranche als Stuntman begann, an die Bildsprache und den makaberen Humor von Kultfilmemacher Quentin Tarantino anzuknüpfen. Dem läßt die Kritik seine genrereflexiven oder -karikativen Gewaltexzesse vor laufender Kamera regelmäßig durchgehen. Zwar hat der gelernte Stuntman das japanische Gangsterdrama mit genausoviel Tempo inszeniert, wie sein Spielort, der Shinkansen, auf die Gleise bringt; was jedoch bei Tarantino mit viel Liebe zum Detail, mit Anspielungsreichtum und jeder Menge verarbeitetem cineastischen Wissen inszeniert ist, wirkt in Leitchs Ausführung auf schnellen drastischen Effekt gebürstet und trotz der parodistischen Überzeichnung leider gar nicht geistreich. Für den Zuschauer ernüchternd ist auch, daß die Beziehungen der vielen Schurken untereinander genauso verworren sind wie im bereits erwähnten „Mord im Orient-Expreß“. Nur hat man dort die Zeit, alles in Ruhe aufzudröseln. 

Am Ende kommt es zu einer mit viel Tricktechnik spektakulär nachgestellten Zugentgleisung. Viel löst das aber im Zuschauer nicht mehr aus. Denn die Handlung ist schon viel früher entgleist und nur besonders hartgesottene Action-Süchtige gedanklich nicht längst ausgestiegen.