© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 32/22 / 05. August 2022

Gemeinde der Nichteinverstandenen
Literatur: Günter Scholdt hat ein höchst informatives Werk über Autoren der „Inneren Emigration“ während der NS-Zeit vorgelegt
Thorsten Hinz

Je mehr über das Deutschland der NS-Zeit gesendet, geschrieben, geredet wird, desto irrealer wird sein Bild. Es erscheint den Zuschauern, Zuhörern und Lesern als ein Gespensterland, bestückt mit verwunschenen Schlössern („Hitlers bösen Bauten“) und besiedelt von finsteren Fabelwesen, die sich an der Überlegenheit ihrer arischen Rasse delektierten, die nach Kanonen statt nach Butter riefen und es gar nicht erwarten konnten, den Kampf um die Weltherrschaft aufzunehmen. Ähnlich verhält es sich mit dem Wissen (respektive Nichtwissen) über das kulturelle und literarische Leben zwischen 1933 und 1945. Es beschränkt sich auf Floskeln wie „Literatur unterm Hakenkreuz“, „Schaufenster der Diktatur“ oder „Der schöne Schein des Dritten Reiches“ (Peter Reichel). Wer damals in Deutschland als Schriftsteller tätig gewesen war, so das Klischee, konnte höchstens Führerhymnen, Marschlieder, germanische Weihespiele und judenfeindliche Traktate verfaßt haben. 

Thomas Mann befand nach dem Krieg, man solle alle Bücher, die damals in Deutschland erschienen waren, einstampfen, da ihnen der Modergeruch des Regimes anhafte. Wobei er verschwieg, daß bis zu seiner Ausbürgerung 1936 auch seine Bücher, darunter Neuerscheinungen, weiter fleißig gedruckt worden waren. Manns Wunsch ist symbolisch in Erfüllung gegangen. Von Hans Fallada, Ernst Jünger und wenigen anderen abgesehen sind heute allein die Emigranten im literarischen Kanon vertreten: Bertolt Brecht, Hermann Broch, Lion Feuchtwanger, die Brüder Mann, Anna Seghers usw. – allesamt hochverdiente Dichter. Nur waren sie nicht die einzigen, die damals Bedeutendes hervorbrachten.

Gratwanderung zwischen Verweigerung und Anpassung

Das neue Buch des Literaturwissenschaftlers und Historikers Günter Scholdt wirft „Schlaglichter auf die ‘Innere Emigration’“ und umreißt die Vielfalt der „nichtnationalsozialistischen Belletristik in Deutschland 1933–1945“. Aus Scholdts Feder stammt der 1.000 Seiten starke Klassiker „Autoren über Hitler“ (1993); er ist der wohl beste Kenner der Literatur jener Jahre. In der Einleitung stellt er klar, daß das „Herzasthma des Exils“, von dem Thomas Mann zu Recht sprach, nicht nur die Autoren im Auslandsexil betraf. Auch unter den in Deutschland verbliebenen Schriftstellern gab es eine beträchtliche Exilgemeinde der Nichteinverstandenen, der Gegner, der Unpolitischen, die – wie Hermann Kasack in seinem Tagebuch festhielt – unter der „Pestzeit der Seele“, den „Lähmungen“, der „Verzweiflung des Geistes“ und an psychosomatischen Beschwerden litten.

So unterschiedlich die politischen Überzeugungen und künstlerischen Mittel dieser Schriftsteller auch waren, die Gratwanderung zwischen Verweigerung und Anpassung war in jedem Fall halsbrecherisch. Der Staat, die Partei, die gleichgeschalteten Institutionen waren für sie feindliche Mächte. Der Austausch im öffentlichen Raum war unterbunden. Innere Emigration bedeutete „eine bedrückende soziale Isolation“, eine künstlerische Produktion „teils ohne Erwartung eines Echos zu Lebzeiten“, eine Kassandra-Existenz und den Verzicht auf emotionale Geborgenheit in der Mehrheitsmeinung.

Auch Rekordauflagen schützten Autoren wie Ehm Welk und Ernst Wiechert nicht vor der Einlieferung ins KZ wegen regimekritischer Äußerungen. Unter der Bedingung künftigen Wohlverhaltens durften sie ihre literarische Arbeit danach wieder aufnehmen, während das Damoklesschwert des Schreibverbots über ihnen schwebte.

Im ersten Kapitel stellt Scholdt „Schlüsseltexte“ vor, unter anderem Falladas „Wolf unter Wölfen“ und Jüngers „Marmorklippen“ natürlich, Werner Bergengruens „Der Großtyrann und das Gericht“, Kasacks „Die Stadt unter dem Strom“. Auch Hermann Hesses „Glasperlenspiel“ zählt er zu dieser Kategorie. Hesse, seit Jahrzehnten in der Schweiz lebend und seit 1923 ihr Staatsbürger, hatte, um das Erscheinen des Romans in Deutschland nicht zu gefährden, auf direkte Anspielungen auf den NS-Staat verzichtet. Trotzdem erhielt das Buch keine Druckgenehmigung und erschien 1943 vorerst nur in der Schweiz.

Wiecherts Roman „Das einfache Leben“ (1939), der mit dem Rückzug des Protagonisten in die Einsamkeit Masurens endet, wird in Kindlers Literaturlexikon abfällig mit den „Schäferidyllen vergangener Epochen“ verglichen. Hingegen zieht Scholz Parallelen zu Adalbert Stifter: Wie dieser schöpfte und vermittelte er Hoffnung „aus der Deutung säkularer Abläufe“.

Konkurrenz zwischen

Goebbels und Göring 

Besonders tragisch ist das Schicksal Jochen Kleppers, der 1937 den Erfolgsroman „Der Vater“ über den Preußenkönig Friedrich Wilhelm I. veröffentlichte. Noch während er daran arbeitete, hatte ihn die Anfrage der Ufa wegen eines Film-Exposés erreicht, worauf er im Tagebuch notierte: „Lieber Himmel, des ‘Vaters’ Regierung ist Kritik, nicht Verherrlichung des Heutigen.“ Doch literarische Texte haben eigene, von ihren Verfassern nicht beherrschbare Gesetze. Doch genau das war, wie Scholdt feststellt, die Basis, auf der Klepper überhaupt erst schreiben durfte. Als der Druck auf ihn unerträglich wurde, wählte er 1942 gemeinsam mit seiner jüdischen Frau den Freitod.

Ehm Welks im Kaiserreich spielende Romane „Die Heiden von Kummerow“ (1937) und „Die Gerechten von Kummerow“ (1943) erlangten sofort große Popularität, die bis heute anhält. Die soziale Solidarität, die die Kummerower Kinder gegen eine hartherzige Obrigkeit entwickeln, konnte als verschlüsselte Kritik am NS-Staat gelesen werden. So jedenfalls wollte es der Autor verstanden wissen. Aber der Nationalsozialismus gerierte sich auch als eine Bewegung der Jugend, die soziale Unterschiede einebnen und gesellschaftliche Verkrustungen aufbrechen wollte. Die Auflehnung gegen eine bigotte Standesgesellschaft paßte ihr durchaus ins Konzept, was dem Autor wiederum künstlerische Freiräume verschaffte.

Zudem war die Kulturpolitik alles andere als monolithisch: Die Konkurrenz zwischen Goebbels und Göring um Einfluß äußerte sich als institutionelle Konkurrenz zwischen dem Reich und Preußen, was insbesondere für das Theaterleben von Bedeutung war. Der Ideologe Alfred Rosenberg, der sich auch in Kunstfragen als gestrenger Tugendwächter betätigte, wurde von Goebbels, der künstlerische Qualität auch jenseits ideologischer Differenzen durchaus schätzen konnte, herzlich verachtet, was gleichfalls einzelnen Autoren nutzte.

Weitere Freiräume eröffneten sich durch den Ehrgeiz der Provinzfürsten. So wurde der 80. Geburtstag des Schlesiers Gerhart Hauptmann 1942 in Berlin lediglich auf Sparflamme begangen. Mit um so größerem Aufwand wurde er in Breslau sowie in Wien begangen, wo Reichsstatthalter Baldur von Schirach – der Sohn eines Theaterintendanten – neuen Glanz in der zur Nebenmetropole geschrumpften alten Kaiserstadt zu verbreiten suchte.

Schließlich saßen in den Kultur- und Zensurgremien neben beschränkten NS-Anhängern auch Leute, denen künstlerische Qualität mehr bedeutete als die linientreue Gesinnung und der politische Zweck.

Als ein skurriles Beispiel für die Ambivalenzen innerhalb des Systems zitiert Scholdt einen 1935 in der Fränkischen Tageszeitung erschienenen Artikel, der die Substitution der südländischen Zitrone durch den einheimischen Rhabarber mit der Begründung forderte: „Nur die Erzeugnisse deutscher Erdscholle schaffen deutsches Blut.“ Die nach wie vor angesehene Frankfurter Zeitung versah den Wahnwitz aus der Provinz mit einer glossierenden Einleitung und druckte ihn wortwörtlich nach. Den Behörden war es keineswegs recht, daß die Selbstentblößung der „Blut und Boden“-Apologeten derart an die große Glocke gehängt wurde. Sie erteilten der Frankfurter eine scharfe Rüge. Entgegen heutigen Vorurteilen führte die Blut-und-Boden-Literatur beim Publikum ein Schattendasein.

Dem Vorhalt fehlender Modernität hält Scholdt entgegen, daß die Zertrümmerung von Formen und Konventionen oft nur ein Selbstzweck ist. Im übrigen widerlegt bereits die Ästhetik der repräsentativen Riefenstahl-Filme die Behauptung einer generellen Moderne-Feindlichkeit in der Kunst jener Zeit. Die Kahlschlag-Lyrik, die in den gängigen Literaturgeschichten mit Günter Eichs sprödem, 1947 veröffentlichten Gedicht „Inventur“ beginnt, läßt sich schon auf die Kriegsjahre datieren. Scholdt zitiert Verse unter anderem von Wolfgang Borchert, Georg Britting und Hans Leip, der heute nur als Textdichter des Lilly-Marleen-Schlagers bekannt ist. Auch Günter Eich setzte sich vom „Tod fürs Vaterland“ schon vor 1945 ausdrücklich ab: „Im Fieber schallen im Ohre / mir Verse von Hölderlin. / Im Spiegelbild der Latrine / Die weißesten Wolken ziehn.“

Literatur als Hüterin des Langzeitgedächtnisses

Neben der Epik und Lyrik bietet das Buch großzügige Über- und scharfe Einblicke auch über und in die Dramatik, die Essayistik und Reiseliteratur. Stellvertretend seien Namen wie Gottfried Benn, Ricarda Huch, Horst Lange, Gerhard Nebel, Josef Weinheber genannt. Das Buch ist eine riesige Fundgrube. Selbst Literaturkenner, die sich darin vertiefen, werden erkennen, wie gering ihre Kenntnisse bisher waren. Im Anhang sind, geordnet nach Jahrgängen, die wichtigsten Publikationen der unterschiedlichen Genres aufgelistet.

Die Wirkung dieses Buches wird sich wohl auf den individuellen Leser beschränken. Zwar hätte es verdient, in die Breite und Tiefe zu wirken, über Hochschulen, Bildungseinrichtungen und Bibliotheken vermittelt zu werden, doch macht der Autor sich diesbezüglich keine Illusionen: „An den Universitäten bestimmt ein gewaltbereiter Mob, wer Vorträge halten darf und wer nicht.“

Das ist charakteristisch für eine gesellschaftliche Situation, in der ein Handeln, das „der Gründung und Erhaltung politischer Gemeinwesen dient, (das) die Bedingungen für eine Kontinuität der Generationen, für Erinnerung und damit für Geschichte“ schafft (Hannah Arendt), unmöglich geworden ist. Stattdessen sind die politischen und zivilgesellschaftlichen Anstrengungen darauf gerichtet, noch bestehende Kontinuitäten zu zerstören.

Im Gegenzug ist das „Innere Exil“ im Begriff, sich als künftiges Lebensmodell neu zu empfehlen. Der Literatur als berufener Hüterin des Langzeitgedächtnisses kommt darin eine wichtige lebensweltliche Funktion zu. In diesem Sinne hat Günter Scholdt nicht nur ein literaturwissenschaftliches, sondern auch ein hochpolitisches Buch verfaßt. Es ist inspiriert von dem Geist, den Peter Huchels Gedicht „Deutschland“ aus dem Jahr 1933 atmet: „Späteste Söhne, rühmet euch nicht, / einsame Söhne, hütet das Licht. / Daß es von euch in Zeiten noch heißt, / daß nicht klirret die Kette, die gleißt, / leise umschmiedet, Söhne, den Geist.“

Günter Scholdt: Schlaglichter auf die „Innere Emigration“. Nichtnationalsozialistische Belletristik in Deutschland 1933–1945. Lepanto Verlag, Rückersdorf über Nürnberg 2022, broschiert, 476 Seiten, Abbildungen, 29,50 Euro