© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 32/22 / 05. August 2022

Warum Rußland den Krieg in der Ukraine nicht verlieren kann, aber ein Sieg Rußlands Niedergang nicht aufhalten wird
Ohne strategische Klugheit
Erich Weede

Im Westen hört man häufig die Forderung, die Ukraine müsse den Krieg gegen Rußland gewinnen. Es wäre schön, wenn der Angreifer Putin den Krieg verlöre, wenn alle anderen, die vielleicht mit Angriffsgedanken spielen, daraus lernen würden, daß Angriffe gegen benachbarte Staaten nur das Vorspiel zur eigenen Niederlage sind. Aber leben wir in einer Welt, in der die Tugend siegt, das Völkerrecht bald herrschen wird und am Ende sogar das Militär langsam überflüssig wird? Das scheint niemand zu glauben. Sonst würden die Amerikaner nicht ihre beachtlichen Rüstungsanstrengungen weiter verstärken, Schweden und Finnen nicht der Nato beitreten wollen und selbst das halb-pazifistische Deutschland nicht hundert Milliarden Euro zusätzlich für die Bundeswehr bereitstellen, obwohl zumindest die regierenden Sozialdemokraten und Grünen das Geld viel lieber für Sozialleistungen ausgäben.

Man kann sich verschiedene Kriegsverläufe oder Szenarien vorstellen und dann deren Wahrscheinlichkeiten abschätzen. Das Wunschszenario des Westens ist der Sieg der Ukraine. Der kann mehr oder weniger deutlich sein. In der Minimalvariante treiben die Ukrainer die Russen in die Stellungen zurück, die sie am 23. Februar 2022 hielten. In der mittleren Variante des ukrainischen Sieges werden die Russen auch aus den Teilen des Donbass vertrieben, die pro-russische Rebellen seit 2014 erobert hatten. In der Maximalvariante des ukrainischen Sieges müssen die Russen auch die Krim aufgeben, die sie schon 2014 der Ukraine abgenommen hatten. Alle drei Varianten wären Demütigungen Putins und Rußlands, auch wenn sie sich im Ausmaß der Demütigung unterscheiden.

Denkbar ist immer auch ein Sieg Rußlands im konventionellen Krieg. Zwar haben sich die russischen Streitkräfte bisher unerwartet schlecht und die ukrainischen Streitkräfte in Anbetracht ihrer Unterlegenheit an Zahl der Soldaten und Ausrüstung unerwartet gut geschlagen, aber das Kriegsglück kann sich ändern. Kriegsverläufe sind schwer vorhersehbar. Auch hier kann man sich minimale, mittlere und maximale Varianten des russischen Sieges vorstellen. Bei der minimalen Variante fällt nur der ganze Donbass in russische Hand, aber Putin gibt die im Juni 2022 noch von ihm besetzte Landbrücke zur Krim wieder auf, vielleicht gegen andere ukrainische Zugeständnisse. Bei der mittleren Variante bekommt Putin den ganzen Donbass und die Landbrücke zur Krim. Bei der maximalen Variante des russischen Sieges fällt die gesamte Ukraine unter russische Kontrolle.

Grundsätzlich gibt es zwei Wege, um die Wahrscheinlichkeiten der Siegesszenarien abzuschätzen. Man könnte die Streitkräfte beider Seiten, deren Kampfbereitschaft und Fähigkeiten, den Einfluß der westlichen Waffenlieferungen und der Sanktionen auf die russische Wirtschaft und denkbare Kampfverläufe analysieren. Das werde ich nicht tun, weil es hier nicht um die Abschätzung der mutmaßlichen Dauer und der Opfer des Krieges geht, sondern nur darum, wer letztlich die Oberhand haben wird. Das hängt meines Erachtens allein von der Tatsache ab, daß die Russische Föderation über ein reichhaltiges Arsenal an Nuklearwaffen verfügt, die Ukraine aber nicht. Nur das amerikanische Arsenal dürfte von der Menge und Vielfalt der einsetzbaren Kernwaffen mit dem russischen vergleichbar sein. Amerikaner und Russen haben gute Gründe, die gegenseitige Vernichtung im Atomkrieg zu fürchten. Deshalb haben die Amerikaner den Russen bisher auch nicht damit gedroht, ihre Nuklearwaffen zum Schutz der Ukrainer gegen Rußland einzusetzen.

Wenn der Kriegsverlauf für Moskau so ungünstig würde, daß ein konventioneller russischer Sieg in weite Ferne rückte, daß das Halten der Landbrücke zur Krim und des Donezbeckens in Gefahr geriete oder gar die russische Kontrolle der Krim, dann kann der Kreml – ich verwende diesen Ausdruck, weil es auf das russische Potential und nicht die Person Putin ankommt – Nuklearwaffen (oder auch andere Massenvernichtungsmittel) einsetzen, um den Ukrainern und dem Westen zu signalisieren, daß er eine konventionelle Niederlage nicht hinnehmen wird.

Obwohl es plausibel ist, daß der Kreml zunächst taktische Atomwaffen gegen militärische Ziele in der Westukraine einsetzen würde, kommt es weniger auf die Details an, sondern auf die damit signalisierte Eskalationsbereitschaft des Kremls. Plausibelstes Ziel der nuklearen Eskalation wäre es, die Ukrainer an den Verhandlungstisch und zu einem für Rußland günstigen Waffenstillstand oder Frieden zu zwingen. Wenn der Westen danach weiter schwere Waffen an die Ukrainer liefert, könnte der Kreml den Einsatz von Atomwaffen in der Westukraine ausweiten.

Mit dem Einsatz von Atomwaffen in der Ukraine wären wir dem großen Atomkrieg, der Vernichtung Europas und vielleicht eines großen Teils der Menschheit, nähergerückt. Weil man im Kreml die Kontrolle von zumindest Teilen der Ukraine für eine existentielle Frage hält, im Westen aber nicht, ist ein russischer Erst­einsatz von Atomwaffen in der Ukraine viel leichter vorstellbar als eine nukleare Vergeltung des Westens in diesem Falle. Das ist klar, weil der Westen vor dem 24. Februar immer die Nicht-Mitgliedschaft der Ukraine in der Nato betont hat und seitdem zwar Waffen liefert und mit Sanktionen gegen Rußland vorgeht, aber nicht Kriegspartei sein will.

Man mag mit Recht beklagen, daß Putin mit dem Angriff auf die Ukraine einen ersten Schritt Richtung Atomkrieg getan hat. Mit dem denkbaren Einsatz von Atomwaffen in der Ukraine hätte er einen zweiten und großen Schritt in diese Richtung gemacht. Aber für die USA oder den Westen wäre es sicher nicht klug, nun auf demselben Weg voranzuschreiten. Deshalb wäre das plausibelste Ende dieses Szenarios, daß der Kreml mit dem Einsatz von Nuklearwaffen in der Ukraine so etwas Ähnliches wie einen russischen Sieg erreicht, also mindestens Landgewinn im Donbass und wohl auch die Landbrücke zur Krim. Wenn der Westen das verhindern wollte, dann bliebe nur die Bereitschaft zum großen Krieg, also das Risiko des Untergangs Europas und vielleicht der Menschheit.

Was folgt aus dieser pessimistischen Analyse? Weder die Tapferkeit der ukrainischen Verteidiger noch westliche Waffenlieferungen, noch zum Wirtschaftskrieg eskalierende Sanktionen des Westens gegen Rußland können die russische Eskalationsdominanz neutralisieren. Dadurch kann nur der Krieg verlängert und die Zahl der Opfer vergrößert werden. Eine aussichtslose Lage (der Ukraine) wird nicht durch Wunschdenken bewältigt. Illusionen können aber den Atomkrieg vorbereiten. Die naive Begeisterung über ukrainische Siege in Europa kontrastiert mit ausgewogenen Analysen mancher prominenter Amerikaner wie Allison, Kissinger oder Mearsheimer, die sich im Gegensatz zu den meisten Europäern und fast allen Deutschen schon lange mit strategischen Fragen beschäftigen.

Wenn man den Krieg in der Ukraine im Zusammenhang mit der weltpolischen Rivalität zwischen der aufsteigenden Weltmacht China und der etablierten Weltmacht USA sieht, dann wird dieser Krieg den Niedergang Rußlands einleiten, fast unabhängig davon, ob Rußland sich nur Teile der Ukraine einverleibt oder das ganze Land. Falls Rußland tatsächlich Atomwaffen einsetzen wird, um sich in der Ukraine durchzusetzen, dann wird es für die westliche Welt auf lange Zeit zum Paria, dann werden die westlichen Wirtschaftssanktionen gegen Rußland noch lange Zeit nach dem Krieg bestehenbleiben. Trotz der kurzfristig ausbleibenden Erfolge westlicher Sanktionen dabei, die militärischen Optionen Rußlands in der Ukraine zu reduzieren, werden die langfristigen Folgen des Wirtschaftskrieges für Moskau negativ sein. Rußlands ohnehin niedrige Wachstumsrate wird eher sinken als steigen. Der stark rückläufige Handel mit dem Westen wird Rußland dazu zwingen, seine Volkswirtschaft nach China hin auszurichten, Chinas Lieferant von Rohstoffen zu werden.

Weil China gegenwärtig über ungefähr die zehnfache Bevölkerung und Wirtschaftskraft Rußlands verfügt, ist kaum vermeidbar, daß Rußland im Laufe der Zeit Chinas Juniorpartner wird. Noch verhindert Moskaus riesige nukleare Überlegenheit über Peking – bei den einsatzfähigen Nuklearwaffen könnte das Verhältnis 10 zu 1 zugunsten Rußlands sein –, daß Rußland zum Satelliten Chinas wird. Aber die kommunistische Volksrepublik wird beim beginnenden Wettrüsten gegen die USA nebenbei auch das militärische Kräfteverhältnis zu Rußland korrigieren.

China hat das wirtschaftliche Kräfteverhältnis gegenüber Rußland in der Vergangenheit ständig verbessert. Ende der 1970er Jahre, vor Beginn der Reformen in Chinas Volkswirtschaft, war das Verhältnis der Wirtschaftskraft noch 1 zu 4 zugunsten der Sowjetunion. Weil Rußland nach Bevölkerungszahl und Wirtschaftskraft ungefähr die Hälfte des ehemaligen Sowjetimperiums darstellt, könnte man auch hypothetisch von 2 zu 1 zugunsten Rußlands damals ausgehen. Eine Veränderung von 2 zu 1 zugunsten Rußlands auf 10 zu 1 zugunsten Chinas deutet die unterschiedliche Dynamik beider Wirtschaftsräume an.

Rußland wird also Mühe haben, auch nur seine gegenwärtige Position relativ zu China zu halten. Zwar bekommt China wegen des Ergrauens der Bevölkerung große demographische Probleme, aber die hat Rußland auch, so daß man diesen Faktor bei der Betrachtung des Kräfteverhältnisses zwischen beiden Staaten vernachlässigen kann. Wenn Rußland durch den Ukraine-Krieg und den vorstellbaren Einsatz von Nuklearwaffen dort die Option zu einer stärkeren Westorientierung verliert, dann wird Rußland Chinas Juniorpartner werden, dann ist der langfristige Sieger des Krieges in der Ukraine das unbeteiligte China. Seine Einflußsphäre wird künftig bis zum ehemaligen Königsberg und Sankt Petersburg reichen. Verglichen damit ist das Schicksal der Ukraine von geopolitisch untergeordneter Bedeutung.

Gegenwärtig rivalisiert der Westen in der Ukraine mit Rußland – durch Waffenlieferungen und Wirtschaftshilfe für die Ukraine und Sanktionen gegen Rußland – und global mit China. Die westliche Politik impliziert, Rußland und China in ein Bündnis zu zwingen. Das ist das Gegenteil von strategischer Klugheit.






Prof. em. Dr. Erich Weede, Jahrgang 1942, Dipl.-Psychologe und Politikwissenschaftler, lehrte Soziologie an den Universitäten Köln und Bonn. Er gehörte zu den Gründungsmitgliedern der Friedrich-A.-von-Hayek-Gesellschaft.