© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 32/22 / 05. August 2022

Lauter Widersprüche in Person
Preußentum als Staatsidee: Zum fünfzigsten Todestag des Schriftstellers Ernst von Salomon
Karlheinz Weißmann

Anfang Juli 1972 nahm der Norddeutsche Rundfunk ein Interview mit dem Schriftsteller Ernst von Salomon auf. Das Ergebnis war ein bemerkenswertes Selbstzeugnis, denn der Befragte erhielt Gelegenheit, sich ungehindert und in aller Breite über das zu äußern, was ihm wichtig war. Der Titel der Sendung – die erst 1979 ins Programm kam – war „Der tote Preuße“. Es wurde damit Bezug genommen auf Salomons letztes, erst posthum erschienenes Buch. Bei diesem „Roman einer Staatsidee“ handelte es sich um einen dickleibigen Torso, der aber die politische Kernidee Salomons enthielt: daß der Staat, nicht das Volk, ganz sicher nicht die Gesellschaft oder der einzelne, den Ausschlag gebe, und daß nach Sparta und Rom diese Vorstellung ihre sichtbare Verkörperung in Preußen fand.

Spätere Reue wegen Beteiligung am Mord an Walther Rathenau

Salomon hat sich stets als Preuße gefühlt, obwohl Preußen zum Zeitpunkt seiner Geburt am 25. September 1902 zwar existierte, aber schon kein voll souveränes Gebilde im Kaiserreich mehr war, nach dem Zusammenbruch 1918, der Gründung der Republik und der Machtübernahme Hitlers nur noch ein Schatten seiner selbst und mit dem Verbot durch die alliierten Siegermächte endgültig verschwand. Salomon ließ das an seiner „Staatsidee“ nicht irre werden. Was ohne Zweifel mit der Prägung durch die Zeit in der Kadettenanstalt zu tun hatte, aber auch mit der Verzweiflung darüber, dem König den Fahneneid gebrochen zu haben und zu spät gekommen zu sein, um das Schicksal des Reiches zu wenden.

Salomon hat berichtet, wie er 1918 mit den übrigen Kadetten gebetet habe, daß der Krieg nicht enden möge, bevor sie ins Feld zögen. Sie wurden nicht erhört und suchten Ersatz in den Freikorps, denen sie sich während des „Nachkriegs“ anschlossen. Salomon kämpfte im Baltikum und geriet dann in die Gefolgschaft des Kapitäns Ehrhardt. Eine Entscheidung, die einen Schatten auf sein ganzes weiteres Leben werfen sollte. Denn in diesem Umfeld plante man politische Attentate auf die Repräsentanten der verachteten Republik. So war Salomon an der Ermordung Walther Rathenaus beteiligt, half bei der Vorbereitung und stand, wie er selbst sagte, „Schmiere“, während andere die tödlichen Schüsse abgaben. Seiner eigenen Darstellung zufolge dämmerte ihm unmittelbar nach der Tat, welchen entscheidenden Fehler er und seine Mitverschwörer begangen hatten. Immerhin kam er anders als die Haupttäter mit dem Leben davon. Salomon wurde festgesetzt, vor Gericht gestellt und wegen Beihilfe zum Mord zu fünf Jahren Zuchthaus verurteilt. Noch während der Haft begann Salomon mit dem Schreiben, und 1930 erschien sein erster – autobiographischer – Roman: „Die Geächteten“. Dem folgte drei Jahre später ein weiterer – „Die Kadetten“ –, in dem er seine persönliche Vorgeschichte verarbeitete.

Allerdings war Salomon nicht nur Schriftsteller, sondern auch Aktivist. In Berlin gehörte er zu den Zirkeln der Soldatischen oder Neuen Nationalisten, Nationalrevolutionäre und Nationalbolschewisten und hielt Verbindung zu deren wichtigsten Köpfen Ernst und Friedrich Georg Jünger, Ernst Niekisch und Friedrich Hielscher. Nur war Salomon stärker als diese Männer an revolutionärer Praxis interessiert, was wahrscheinlich auch mit dem Einfluß seines Bruders Bruno zu tun hatte, der am Ende der zwanziger Jahre zu den radikalsten Sprechern der Landvolkbewegung gehörte und sich zuletzt der KPD anschloß. In dem Buch „Die Stadt“, das noch 1932 erschien, gab Salomon eine bemerkenswerte Schilderung der Atmosphäre dieser Zeit. Was dann folgte, hat Salomon in dem eingangs erwähnten Interview mit den Worten charakterisiert: „Wir bemühten uns zu sagen: Was ist Staat? Was ist Nation? Was ist Volk? Was ist dies alles? Und plötzlich, unsere Antworten, die röhrten durch alle Straßen, durch Rundfunk, durch alles, nicht wahr, und er [Hitler] benutzte alle unsere Begriffe im verkehrten Sinn.“ 

In Ernesto Che Guevara sah Salomon eine verwandte Seele

Die Haltung, die Salomon nach 1933 an den Tag legte, war durchaus von Bereitschaft zur Anpassung gekennzeichnet. Die erklärte sich schon aus der Sorge um seine jüdische Lebensgefährtin Ille Gotthelft, die er als seine Ehefrau ausgab. Er veröffentlichte 1936 noch einen kleinen (aber sehr instruktiven) Band zum Übergang vom Kaiserreich zur Republik unter dem Titel „Nahe Geschichte“ und gab zwei Jahre später „Das Buch vom deutschen Freikorpskämpfer“ heraus, verlegte sich aber sonst auf das – eher unverfängliche, aber lukrative – Schreiben von Filmdrehbüchern.

Obwohl Salomon nach Lage der Dinge als „Unbelasteter“ hätte gelten müssen, wurde er 1945 wegen der mehr als zwanzig Jahre zurückliegenden Verwicklung in den Rathenau-Mord von den US-Amerikanern interniert. Die Schilderung der Gefangenschaft, der Schikanen und Torturen, denen er und seine Schicksalsgenossen unterworfen wurden, gehört zu jenen Passagen seines Buches „Der Fragebogen“, die das größte Aufsehen erregten. Der 1951 erschienene Band war das, was man nun auch in Deutschland „Bestseller“ nannte. Die Ursache dafür war, daß der Autor sagte, „was ist“ (Hans Zehrer). Aber die meisten Kritiker reagierten scharf ablehnend und hielten Salomon Unbelehrbarkeit vor. Worauf er mit der sarkastischen Bemerkung reagierte, die Willfährigkeit der „Lizenzpresse“ gegenüber den Machthabern unterscheide sich kaum von der der früheren Journalisten und Redakteure gegenüber dem NS-Regime.

Die Feststellung könnte man mit Salomons Entschluß zusammen sehen, auch bei einem der ersten Lippoldsberger Dichtertage Hans Grimms aufzutreten. Aber ein Mann der „nationalen Rechten“ war er nicht mehr, so wenig wie ein Anhänger von Marktwirtschaft und Westbindung. Vielmehr konnte man den Eindruck gewinnen, daß er den alten Faden der Ostorientierung wieder aufnahm, als er die von der DDR gesteuerte Deutsche Friedensunion unterstützte und 1961 in Tokio an einer Weltfriedenskonferenz teilnahm. Die Japanreise war Thema seines vorletzten Buches „Die Kette der tausend Kraniche“, das kurz nach seinem Tod veröffentlicht wurde. Zu den wichtigen Begegnungen rechnete er die mit einem Mann, der aus einer alten Samurai-Familie stammte. Der habe ihm erklärt, daß der Krieg durch den Einsatz der Atomwaffe entartet sei. Alles, was der bushido gelehrt habe, sei jetzt ohne Wert. Im Kampf gebe es keine Ehre, keine Tapferkeit mehr zu beweisen, keinen Ruhm zu gewinnen. Allerdings stand neben diesem merkwürdigen Pazifismus unvermittelt Salomons Begeisterung für die kubanische Delegierte, die über Che Guevara sprach. In dem sah Salomon eine verwandte Seele, einen echten „Vertreter des Gedankens, daß Revolutionen überhaupt nur auf nationaler Basis zu einer wirklichen Volksbefreiung führen“ könnten, einen „Freikorpsguerilla“.

Man kann die Widersprüchlichkeit dieser Positionen nicht harmonisieren. Sie hatten mit den Zeitumständen des „Jahrhunderts der Extreme“ (Eric Hobsbawm) wie mit Salomons Charakterzügen zu tun, die sich schwer auf einen Nenner bringen lassen. Denn er war immer beides: Etatist und Bohemien, Konservativer und Revolutionär, Russen- und Franzosenfreund, Verfasser seichter Filmdrehbücher und ein glänzender Schriftsteller. Er starb vor fünfzig Jahren am 9. August 1972.