© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 32/22 / 05. August 2022

„Warum nicht zugreifen?“
Rußland, Österreich und Preußen annektierten nach dem Vertrag von Sankt Petersburg 1772 Teile der polnischen Rzeczpospolita
Jan von Flocken

Dreieinhalb Jahrhunderte hatte sich niemand für die Zips interessiert. Dieses etwa 3.200 Quadratkilometer große Gebiet in der heutigen Slowakei war seit dem 13. Jahrhundert von sächsischen Kolonisten besiedelt worden und zählte 24 Städte, darunter Zipser Neudorf (Spišská Nova Ves), Leutschau (Levoča) oder Deutschendorf (Poprad). 1412 verpfändete der ständig von Geldnöten geplagte römisch-deutsche Kaiser Sigmund, der auch König von Ungarn und Böhmen war, den Großteil der Zips mit 13 Städten für 140.000 Rheinische Gulden an Polen mit der Maßgabe, dieses Pfand irgendwann wieder einzulösen. Nominell gehörten die verpfändeten Gebiete weiterhin zu Ungarn.

Dann plötzlich, im Sommer 1769, ließ der Habsburger Kaiser Joseph II. das Gebiet der Zips von Truppen besetzen, ohne die Pfandsumme einzulösen. Das vom Haus Österreich regierte Königreich Ungarn sei damit wieder in alle seine Rechte eingesetzt. Joseph, der 1765 seinem Vater auf den Thron gefolgt war, nutzte dabei die militärische und wirtschaftliche Schwäche Polens, das seit einem Jahr im Krieg mit Rußland lag. Ursache für diesen Konflikt bildete eine Rebellion des polnischen Adels gegen seinen König Stanislaw Poniatowski. Der war ein abgehalfterter Liebhaber der Zarin Katharina II., die ihn bequemerweise mit erheblichem Druck den Polen 1764 als Monarch aufgebürdet hatte. Stanislaws an Rußland orientierte Politik machte ihn äußerst unbeliebt, und so kam es 1768 zum Aufstand gegen den König. Daraufhin marschierten russische Truppen ein.

Diese brisante Situation nutzte Kaiser Joseph zum Griff nach der Zips. Seine Mutter Maria Theresia, die eigentliche Machthaberin, mißbilligte das Ganze, auch weil sie einen Grenzkonflikt mit den Russen befürchtete. Allerdings beschränkte sie sich weitgehend auf die Rolle einer kritischen Zuschauerin. Preußen wiederum, das seit dem Abschluß eines Defensivbündnisses im Jahr 1764 dem Zarenreich im Falle eines Angriffs zu militärischem Beistand verpflichtet war, versuchte zunächst, die Lage zu entschärfen. König Friedrich der Große traf sich im August 1769 in der Stadt Neiße mit Joseph II. sowie ein Jahr danach in Mährisch-Neustadt. Dort begrub man die alten Rivalitäten zwischen Berlin und Wien. 

Dem Habsburger und dem Hohenzollern widerstrebte das ungehemmte Agieren der Zarin in Polen und man überlegte, ihr ein Geschäft vorzuschlagen – auf Kosten Polens, das mittlerweile in völliger Anarchie versunken und handlungsunfähig war. Wie weit diese Überlegungen gediehen, ist nicht sicher, aber zur rechten Zeit kam aus Sankt Petersburg ein interessantes Signal. Die Zarin wußte genau: „Preußen und Österreich würden lieber mit den Türken gegen uns marschieren, als ganz Polen unseren Händen zu überlassen“. Also schrieb Katharina am 20. Juli 1770 an Friedrich, sie wünsche seinen Bruder Heinrich an ihrem Hof zu empfangen. Am liebsten hätte sie den Preußenkönig selbst konsultiert, aber der ließ sich wohlweislich nicht darauf ein. Er hatte fünf Monate zuvor dem russischen Außenministerium ein Projekt zugespielt, worin es hieß, man solle sich konsultieren, „um alle Interessen der Fürsten zugunsten Rußlands zu vereinigen und den europäischen Staatsgeschäften (...) eine ganz andere Wendung zu geben“. Zarin Katharina könne sich „als Entschädigung für ihre Kriegskosten ein beliebiges Stück von Polen aneignen“.

Der Zarin ging es nur noch darum, „Österreich zu erkaufen“

Am 12. Oktober 1770 traf Prinz Heinrich in Petersburg ein. Die Zarin war über die Person des hochgebildeten Preußen hellauf begeistert. Endlich konnte sie mit einem Ebenbürtigen nicht nur über Politik, sondern auch über Kunst, Wissenschaft, Literatur und Gesetzgebung reden. Eine Übereinstimmung der Ideen zeigte sich namentlich in der polnischen Frage. Bei einer der vielen Unterredungen ließ Katharina schließlich die Maske fallen. Sie brachte das österreichische Vorgehen in der Zips zur Sprache und sagte zu Heinrich: „Warum um alles in der Welt sollten wir dort nicht auch zugreifen?“ Als der Prinz tat, als verstünde er die Anspielung nicht recht, meinte sie: „Schließlich muß doch jeder etwas davon bekommen“ und bot Preußen direkt das Bistum Ermland an. Es ginge nur noch darum, „auch Österreich zu erkaufen“. Damit waren die Weichen gestellt.

Der vorläufige Teilungsvertrag zwischen Rußland und Preußen wurde am 17. Februar 1772 in Petersburg unterzeichnet. Endgültig einigte man sich an gleicher Stelle mit Österreich im Pakt vom 5. August. Darin hieß es, man habe zur Teilung schreiten müssen, „um die Ordnung im Inneren des Landes wiederherzustellen und seine Existenz in einer Weise zu formen, die den Interessen seiner Nachbarn besser entspricht“. Das polnische Territorium wurde im Westen, Osten und Süden beschnitten. Rußland erhielt weißrussisches Gebiet mit den Städten Polozk, Witebsk, Mogiljow und Orscha (82.000 Quadratkilometer mit 1,6 Millionen Einwohnern), an Österreich fielen Galizien und Lodomerien (74.000 Quadratkilometer mit 2,5 Millionen Einwohnern), Preußen begnügte sich mit dem Bistum Ermland, Pommerellen und dem Netzedistrikt außer Danzig und Thorn (35.000 Quadratkilometer mit 600.000 Einwohnern).

Maria Theresia, die gottesfürchtige Kaiserin in Wien, wollte es zunächst nicht leiden, daß man den Polen Gewalt antat. „Das offenbare Recht ist himmelschreiend wider uns“, erklärte sie und überhäufte ihren Sohn Joseph mit bitteren Vorwürfen. Doch Österreichs Politiker stimmten die Majestät endlich um, und Maria Theresia setzte ihren Namen unter Tränen auf die Teilungsurkunde. Das hinderte alle Beteiligten auch nicht daran, bis 1794 in zwei weiteren Teilungen den Staat Polen für mehr als hundert Jahre von der Landkarte zu streichen.