© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 32/22 / 05. August 2022

Ein Führer, der nie führte
Terrorist, Faschist oder „Held der Nation“: Die Debatte um den ukrainischen Nationalisten Stepan Bandera wird schärfer
Paul Leonhard

Stepan Bandera ist auch 63 Jahre nach seiner Ermordung durch einen NKWD-Agenten in München ein Name, der die Emotionen hochkochen läßt, insbesondere in der Ukraine, Polen und Rußland. An der geschichtlichen Einordnung des ukrainischen Nationalisten scheiden sich die Geister. Für die einen ist Bandera ein Massenmörder, Terrorist, NS-Kollaborateur, Antisemit, für die anderen ein Freiheitskämpfer, Vordenker, Führer, „Held der Ukraine“. Diesen Titel verlieh ihm der ukrainische Präsident Wiktor Juschtschenko 2010 posthum, um Bandera für seinen „unzerstörbaren Geist bei der Verteidigung der nationalen Idee, sein Heldentum und seine Aufopferung im Kampf für den unabhängigen ukrainischen Staat“ zu ehren. 

In der westlichen Welt und speziell in Israel löste diese Würdigung Unverständnis und Protest aus. Ohnehin schaute man dort ungläubig auf den Mythos, der um Bandera gewebt wurde, indem für ihn immer neue Denkmale errichtet und Straßen nach ihm benannt wurden. Hatten die Russen doch recht, wenn sie die Ukrainer als Faschisten verunglimpften? Zumindest beim Titel „Held der Ukraine“ ruderte Kiew schnell zurück. Bandera wurde dieser bald darauf  wieder entzogen, mit der grotesken Begründung, daß die Auszeichnung nur Bürgern der Ukraine verliehen werden könne.

Daß Bandera auch wenig geschichtsinteressierten Deutschen ein Begriff wurde, dafür sorgte der ukrainische Botschafter Andrij Melnyk, als er eine Lanze für den Nationalisten brach und dabei nicht bedachte, daß man zwar in der Bundesrepublik ungestraft das deutsche Staatsoberhaupt schmähen – den Bundeskanzler und seine Minister sowieso – aber nicht an der polnischen Sicht auf den Zweiten Weltkrieg rühren darf und schon gar nicht just vor jenem Tag, den Warschau als Gedenktag für die von Ukrainern in den letzten Kriegsjahren ermordeten Polen in Wolhynien und Ostgalizien begeht: den 11. Juli (siehe Seite 12). Dabei hat Melnyk in der Sache recht, wenn er feststellt: „Bandera war kein Massenmörder von Juden und Polen.“ Tatsächlich gibt es keine Belege für Banderas Teilnahme an den ethnischen Säuberungen. Als diese stattfanden, saß der Chef der Organisation Ukrainischer Nationalisten (OUN) bereits mehr als ein Jahr als Sonderhäftling in einem deutschen Konzentrationslager und nach dem Krieg äußerte er sich im Münchner Exil nicht zu den Massakern.

Bandera führte einen gnadenlosen Kampf für den ukrainischen Staat

Lew Rebet, einer von Banderas Gegnern in der seit 1940 gespaltenen OUN, wies 1947 darauf hin, daß dieser am antisowjetischen Partisanenkrieg der bis in die fünfziger Jahre kämpfenden ukrainischen Nationalisten gar nicht beteiligt war: „Bereits 1934 verhaftet, kehrte er nie in die Ukraine zurück und hatte mit Ausnahme einer kurzen Zeitspanne in den Jahren 1940 und 1941 keinen direkten Bezug zur Organisation, er war im Gefängnis, dann im Konzentrationslager, dann im Exil.“

Stepan Bandera, am 1. Januar 1909 als Sohn eines griechisch-katholischen Priesters in einem galizischen Dorf geboren, radikalierte sich frühzeitig. Schon als Student in Lemberg schloß er sich der von Andrij Melnyk (1890–1964) geleiteten illegalen OUN an, die im Winter 1929 in Wien gegründet worden war. Gemeinsam träumte man von einem unabhängigen Staat, der sich aus der Sowjet-ukraine, der von Polen beherrschten Westukraine und der tschechoslowakischen Karpato-Ukraine zusammensetzen sollte. Bandera entwickelte sich schnell zu einem kompromißlosen Terroristen, der Anfang der 1930er Jahre zum OUN-Führungskader gehörte. Gemäß dem ideologischen Manifest der OUN trat er für einen gnadenlosen Kampf für einen ukrainischen Staat nach dem Vorbild der Faschisten in Italien ein. Nahziel der OUN war nicht die Destalinisierung der zu Stalins Reich gehörenden Ukrainischen Sozialistischen Sowjetrepublik, sondern ein Aufstand in den Polen im Rigaer Frieden zugesprochenen ukrainischen Westgebieten. 

Höhepunkt der Terrorwelle war die Ermordung des polnischen Innenministers Bronisław Pieracki in Warschau, die Bandera organisiert hatte. Der erste Gerichtsprozeß gegen ihn in Warschau sorgte für eine große Medienresonanz, da Bandera auf die Fragen des Richters nicht auf polnisch, sondern verbotenerweise auf ukrainisch antwortete. Zudem demonstrierte er sowohl im Warschauer Prozeß 1935 als auch im folgenden 1936 in Lemberg eiserne Beharrlichkeit, was ihn fortan zum „Symbol des aufrechten ukrainischen Nationalisten“ machte, Schöpfer der Parole „Den ukrainischen Staat erringen oder sterben“, wie Wilfried Jilge 2020 in dem Sammelband „Ukraine verstehen. Auf den Spuren von Terror und Gewalt“ feststellte. Das Todesurteil wurde in lebenslange Haft umgewandelt. Nach Kriegsbeginn 1939 wurde Bandera freigelassen und ging in das von der Wehrmacht besetzte Krakau, wo er sich zu einer Zusammenarbeit mit der deutschen Abwehr entschloß, da er die Hoffnung hegte, daß Hitlers aggresive Außenpolitik eine höhere Wahrscheinlichkeit für eine unabhängige Ukraine bedeuten könnte.

Ausführliche Instruktionen für den erwarteten deutschen Angriff auf die Sowjetunion lieferte die im Mai 1941 erschienene Schrift „Kampf und Tätigkeit der OUN während des Krieges“, die Bandera zusammen mit seinem Vize Jaroslaw Stezko (1912–1986) und dem späteren Oberkommandierenden der Ukrainischen Aufstandsarmee (UPA), Roman Schuchewytsch (1907–1950), verfaßt hatte. Danach sollten im Kriegsfall die regimetreue Intelligenz, die Aktivisten und Funktionäre der feindlichen Nationalitäten, das heißt der „Moskowiter“ sowie Polen und Juden, liquidiert und durch Mitglieder der ukrainischen Elite ersetzt werden.

Am 30. Juni 1941 schien es soweit zu sein. Während sich Bandera noch in Krakau befand, war Stezko beim Fall Lembergs vor Ort und rief gestützt auf seine Milizen und zur Überraschung der Wehrmacht eine unabhängige Westukraine aus. Da der sowjetische Geheimdienst kurz zuvor 4.000 ukrainische Häftlinge ermordet hatte, war die Stimmung aufgeheizt. Die OUN-Kämpfer übernahmen zum Teil die Polizeigewalt und beteiligten sich an Pogromen gegen die in Lemberg lebenden Juden. „Heil Hitler! Heil Bandera! Lang lebe der Ukrainische Unabhängige Staat! Lang lebe unser Führer S. Bandera“, stand beispielsweise auf einem Plakat, das Unabhängigkeitskämpfer im Sommer 1941 in latainischer und kyrillischer Schrift an einen Bogen des Schlosses Schowkwa gehängt hatten.

Die Kompromißlosigkeit gegenüber ethnischen Minderheiten im ukrainischen Befreiungskampf, vor allem Juden und Polen, die Bandera immer propagiert hatte, bezeugen für den Historiker Grzegorz Rossoliński-Liebe einen „überzeugten Faschisten“, der „zumindest moralische Verantwortung“ an den 1943/44 verübten Massakern in Wolhynien und Ostgalizien trägt: „Vor dem Krieg machte er kein Geheimnis daraus, daß nicht nur Hunderte, sondern Tausende Menschenleben geopfert werden müssen, damit die OUN ihre Ziele realisieren und ein ukrainischer Staat entstehen könne.“ 

Kriegsverbrecher oder Ikone eines antisowjetischen Kampfes?

Der neue ukrainische Staat von 1941 existierte lediglich fünf Tage. Dann wurden Bandera, Stezko und mehrere hundert andere OUN-Mitglieder festgenommen. OUN und UPA kämpften fortan im Untergrund für eine unabhängige Ukraine. Bandera, von SS-Gruppenführer Gottlob Berger als „zäher und verschlagener Kerl, der gefährlich werden kann“, eingeschätzt, wurde erst Ende September 1944 aus dem KZ entlassen. Zwei Monate später wurde ein Ukrainisches Nationalkomitee gegründet, das vom Hitlerregime im März 1945 als „alleiniger Vertreter des ukrainischen Volkes“ anerkannt wurde. 

Aber da hatte sich Bandera bereits der führungslosen „Ukrainischen Insurgenten-Armee“, einer relativ gemäßigten Organisation ukrainischer Separatisten, bemächtigt und war mit deren Kämpfern in den karpatischen Gebirgswäldern verschwunden. Zumindest tischte der Spiegel seinen Lesern im Oktober 1959 diese abenteuerliche Geschichte über den Verbleib Banderas in den letzten Kriegsmonaten auf. Danach ließ sich „Armeeführer Bandera“ zwar bis zum Schluß mit deutschen Waffen versorgen, führte jedoch bald ein Eigenleben zwischen den feindlichen Fronten. Als ein Jahr nach Kriegsende die Truppe in einen Haufen rivalisierender Banden zerfiel, floh Bandera über Österreich nach Bayern und ließ sich in München unter dem Namen Stefan Popel nieder. Endgültig zum Mythos wurde Bandera, als er am 15. Oktober 1959 starb. Denn schnell stellte sich heraus, daß er das Opfer eines KGB-Attentats geworden war. Fortan wurde Bandera einerseits von der ukrainischen Exil-Kommune als Sinnbild für den antisowjetischen Kampf überhöht, andererseits von der sowjetischen Propaganda als Kriegsverbrecher und Terrorist geschmäht.