© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 32/22 / 05. August 2022

Institution auf dem Prüfstand
Die beabsichtigte kritische Bestandsaufnahme von Tobias Singelnstein und Benjamin Derin über Arbeit und Wirkung der Polizei gerät zur politischen Anklageschrift
Jan Martens

Wie verschiedene Umfragen immer wieder bestätigen, ist das Vertrauen der Deutschen in ihre Polizei groß. Dennoch übte der bisherige UN-Sonderberichterstatter für Folter und erniedrigende Behandlung, Nils Melzer, im April 2022 schwere Kritik an den deutschen Sicherheitsbehörden und unterstellte ihnen „Systemversagen“ bei der Aufarbeitung übermäßiger Polizeigewalt. Anlaß für Melzers Kritik war die Härte, mit der gegen Corona-Proteste in Deutschland vorgegangen worden war. Die Maßnahmen hatten sich nicht etwa gegen gewaltbereite schwarze Blöcke gerichtet, sondern in vielen Fällen gegen Einzelpersonen aus dem bürgerlichen Spektrum, die bisher noch nie polizeilich in Erscheinung getreten waren. 

Es gibt also Gründe, die polizeiliche Praxis in Deutschland und ihre Rolle im politischen Prozeß unter die Lupe zu nehmen. Einen solchen Versuch unternehmen der Kriminologe Tobias Singelnstein und sein langjähriger Mitarbeiter, Rechtsanwalt Benjamin Derin, in ihrem aktuellen Buch. Die Autoren gehen allerdings einen Schritt weiter: Sie wollen die Polizei „unter Generalverdacht“ stellen und mit ihrer Analyse „das Bild einer fundamental ambivalenten Organisation freilegen“ – so der Begleittext des Econ Verlages.

Singelnstein und Derin verstehen die Polizei als eine kontinuierlich nach mehr Macht strebende Organisation, die sich nicht politischen Kontrollmechanismen unterwerfen wolle. Rechtsextremismus sei hier kein Einzelfall, sondern eine „verfestigte Struktur“. Wie groß das Problem sei, könne allerdings niemand genau sagen, da die Polizeibehörden unabhängige Untersuchungen blockierten – da hilft auch nicht, eine knapp dreißig Jahre alte Befragung zu zitieren, nach der 15 Prozent der Polizisten in Frankfurt am Main die Republikaner wählen wollten. Zwar sei die Polizei durch personelle Fluktuation diverser und somit offener für Kritik geworden. Seit einigen Jahren zeige sich jedoch eine Gegenbewegung, die sich auf Bundesebene in der Etablierung der AfD widerspiegele. Deren Einfluß auf die Polizei sei vor allem in den östlichen Bundesländern groß. Ganz aufgelöst sei „die Grenze zur extremen Rechten in der Polizei jedoch (noch) nicht“. Dies begründen die Autoren ausgerechnet damit, daß Polizisten, die für die liberal-konservative Zeitschrift Tichys Einblick schreiben, dies nur unter Pseudonym täten, um in ihrer Behörde nicht in Mißkredit zu geraten. Eine Ausnahme sei dabei der Bundesvorsitzende der Deutschen Polizeigewerkschaft, Rainer Wendt, der der Zeitschrift mehrere Interviews gab. 

Für die angeblich rassistisch motivierten Polizeikontrollen setze die Polizei nicht selbst die Ursache. Daß junge Männer mit Zuwanderungshintergrund im Fokus der Polizei stünden, habe primär damit zu tun, daß sie von der Gesellschaft als bedrohlich empfunden würden. Diese wiederum sehe ihre Annahmen durch die polizeiliche Praxis bestätigt – ein Teufelskreis. Den „Defund the Police“-Ansätzen der Black-Lives-Matter-Bewegung stehen Singelnstein und Derin indes skeptisch gegenüber. Zwar bereite die Bewegung Wege in die Debatte, jedoch entwickele sie keine beständigen Alternativen.

Das Aufgabengebiet der Polizei müsse deutlich verkleinert werden

Singelnstein und Derin erheben dagegen konkrete Forderungen zur Reform der Polizei. Allerdings sind die meisten der dargestellten Ansätze nicht zu Ende gedacht. Als wichtigsten Schritt betrachten sie den polizeilichen Verzicht auf „schwere Waffen“. Damit meinen die Autoren nicht etwa Panzer und Raketenwerfer, sondern Wasserwerfer und Schußwaffen, aber auch Taser, Pfefferspray und „schwere Schlagstöcke“. Zudem müsse das Aufgabengebiet der Polizei deutlich verkleinert werden. Kriminalfälle aufklären könne die Staatsanwaltschaft selbst, Verkehrsaufgaben könnten durch die Verkehrsbehörde wahrgenommen werden und Menschen mit psychischen Ausfallerscheinungen sollten durch geschultes Personal betreut werden. Die Autoren werben für die Entkriminalisierung von Straftatbeständen wie Fahren ohne Fahrschein, Sachbeschädigungen, Ladendiebstahl geringwertiger Sachen und „moralisch aufgeladener Tatbestände“ wie zum Beispiel dem Beischlaf mit volljährigen Verwandten.

Einige der Forderungen erscheinen durchaus plausibel. Auch die, von den Autoren nicht besonders geschätzten Polizeigewerkschaften fordern eine Entlastung von sachfremden Aufgaben – was im übrigen der Grundthese einer nach immer mehr Macht strebenden Polizei widerspricht. Allerdings übersehen die Verfasser gleich mehrere Effekte: Wenn die Polizei Aufgaben abgibt, entstehen durch die wegfallenden Synergien zusätzliche Personalbedarfe in anderen Bereichen. Wenn diese Stellen auch nur anteilig durch eine Personalreduzierung bei der Polizei finanziert werden, bedeutet dies eben auch, daß es im Notfall nicht fünf, sondern zehn Minuten dauert, bis der erste Streifenwagen vor der Tür steht und daß bei einem Einbruch nicht drei Streifenwagen anfahren, sondern nur einer – und der ohne Waffen, wenn es nach dem Willen der Autoren geht.

Die detailgenaue Darstellung des Polizeiapparates, seiner Laufbahnen und Fachkarrieren sowie das wiederholte Einstreuen polizeilicher Fachvokabeln und von Begriffen aus der polizeilichen Praxis lassen profunde Kenntnisse der Polizeiorganisationen erkennen. Allerdings hätte es dem Werk gutgetan, hätten die Autoren entschieden, entweder ein umfassendes Lehrbuch oder eine politische Streitschrift zu schreiben. Die vorliegende, 448 Seiten starke  Mischform ist für ein Lehrbuch zu polemisch und für eine Streitschrift zu lang. Bei den aufbereiteten Informationen handelt es sich in vielen Fällen um Banalitäten: Daß die Polizei gegenüber Politik und Öffentlichkeit auch ihre eigenen Interessen vertritt und daß insbesondere die Polizeigewerkschaften Einfluß auf politische Prozesse nehmen, ist nicht nur legitim, es ist eben auch keine Neuigkeit.

Günter Wallraff und Georg Restle jedenfalls finden das Buch prima und steuern ein lobendes Wort für den Umschlag der ersten Auflage bei. Die Auswahl dieser Laudatoren unterstreicht allerdings weniger Expertise und Sachlichkeit als die politische Selbstverortung der Autoren im linken politischen Lager. 

Tobias Singelnstein, Benjamin Derin:  Die Polizei: Helfer, Gegner, Staatsgewalt. Inspektion einer mächtigen Organisation. Econ Verlag, Berlin 2022, gebunden, 448 Seiten, 24,99 Euro