© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 32/22 / 05. August 2022

Literatengezänk ohne Löschtaste
Thomas-Mann-Forschung spart den Antisemitismus lieber aus
Wolfgang Müller

Im Januar 1910 veröffentlichte Theodor Lessing (1872–1933), Privatdozent der Philosophie an der TH Hannover und umtriebiger Publizist, in Siegfried Jacobsohns Schaubühne unter dem Titel „Samuel zieht Bilanz“ einen wuchtigen Angriff auf den jüdischen Literaturkritiker Samuel Lublinski. Lessing, selbst jüdischer Herkunft, schlägt darin einen Ton an, der nicht davor zurückschreckt, das Äußere des Gegners als Argument einzusetzen und ihn als „espritjüdischen Typus“ und „Talmud-Mißgebürtchen mit einem hypertrophisch entarteten Schreib- und Redezentrum“ zu attackieren. 

In unseren sozialen Medien veröffentlicht, wäre diese Polemik als „Haßrede“ schnell gelöscht worden. Im deutschen Kaiserreich hingegen, mit seinen Tausenden von Zeitschriften und Zeitungen ein Traumland der Meinungsfreiheit, gehörte Lessings Wortmeldung in die Rubrik Literatengezänk. Von dort wäre sie niemals auf die Nachwelt gekommen, wenn mit Thomas Mann nicht ein Jahrhundertautor Lessings Fehdehandschuh aufgenommen hätte. Mann glaubte, den „häßlichen kleinen Lublinski“ aus Dankbarkeit verteidigen zu müssen, da er als erster Kritiker den literarischen Rang der „Buddenbrooks“ gerühmt hatte.

Seinerseits aufs Physiognomische zielend, karikierte Mann die äußere Gestalt des kleinwüchsigen Lessing als „Schreckbeispiel schlechter jüdischer Rasse“, die sich durchs Leben ducke und wohl das „schwächste und schäbigste Exemplar“ des gewiß nur in „einigen Fällen doch wohl bewunderungswürdigen [jüdischen] Typus“ sei. 

Die Thomas-Mann-Forschung, ein kräftiger Ast am Stamm der seit den 1970ern stramm linksliberalen westdeutschen Germanistik, haben diese Zeilen und andere, vermeintlich „antisemitisch“ kontaminierte Texte in einige Verlegenheit gestürzt. Was der Kulturwissenschaftler Artur Abramovych in seiner den Lessing-Mann-Streit sezierenden Studie mit diebischer Schadenfreude vorführt. Das ganze Elend einer bei jedem gegen Juden gerichteten Wort reflexhaft Antisemitismus-Alarm schlagenden Disziplin offenbart sich für ihn im Blick auf die Rezeption dieser Kontroverse. Lessing habe den „Assimilationsjuden“ Lublinski vom zionistischen Standpunkt angegriffen. Thomas Mann, der sich seit 1927 immer wieder in „völkischer“ Diktion klar prozionistisch äußerte, bediente sich gegen Lessing der gleichen Stereotype vom „mauschelnden“ Juden und übernahm auch dessen anti-assimilatorische Denunziation. Wer ist hier denn der „Antisemit“? Der jüdische Zionist oder der deutsche, mit einer Jüdin verheiratete Parteigänger des Zionismus? Der Begriff des Antisemitismus erweise sich also als ahistorisch, unwissenschaftlich und von der politischen Einstellung desjenigen abhängig, der ihn erhebt. 

Artur Abramovych: Entartete Espritjuden und heroische Zionisten. Jüdischer Nietzscheanismus in der Auseinandersetzung zwischen Theodor Lessing und Thomas Mann. Gerhard Hess Verlag, Bad Schussenried 2022, broschiert, 140 Seiten, 16,99 Euro